Verbrechen an Minderjährigen: Expertinnen: Mangelhafter Schutz gegen Kindesmissbrauch

Wie geht es weiter, wenn Kinder- und Jugendmediziner einen Verdacht auf Kindesmissbrauch haben? Im U-Ausschuss des Landtags bemängeln Expertinnen klaffende Lücken.
In Deutschland gibt es aus Sicht von Kinder– und Jugendmedizinern sowie Kinderschützern noch immer keine tragfähige Struktur, um Opfer von Kindesmissbrauch aufzufangen und die Taten aufzudecken. Es fehle ein auskömmlich finanziertes Netzwerk mit interdisziplinärer Fachkompetenz – auch in der Traumatherapie, schilderten mehrere Sachverständige bei einer Anhörung im „Untersuchungsausschuss Kindesmissbrauch“ im Düsseldorfer Landtag.
Für den Kinderschutz wäre ein systematischer Austausch zwischen Medizin, Jugendhilfe, Polizei und Justiz nötig, sagte die stellvertretende Klinikdirektorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Berliner Charité, Sybille Winter. „Allerdings sind wir hier in Deutschland durch den Datenschutz eingeschränkt.“ Hier müsse es dringend eine Gesetzesänderung geben.
Datenschutz vor Kinderschutz?
Sie beschäftige sich seit 30 Jahren mit dem Thema, berichtete die Universitätsprofessorin für Traumafolgen und Kinderschutz. „Früher war die Regel: Kinderschutz vor Datenschutz. Und ich habe das Gefühl, das hat sich genau umgedreht: Datenschutz vor Kinderschutz.“
Winter schlug unter anderem vor, in der Notaufnahme „Kinder-Lotsen“ einzuführen – Sozialarbeiter, die speziell ausgebildet seien, um mit Kinderschutz und Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt umzugehen – weil hier sehr viel ankomme. Ein großes Problem sei, dass betroffene Kinder und Jugendliche nicht sprechen wollten – teils aus Loyalität mit Tätern in der Familie, teils aus Scham oder Schuldgefühlen. Vor allem Jungen hätten Schwierigkeiten, zu reden.
Auch die Düsseldorfer Kinder- und Jugendärztin Monica Naujoks schilderte aus ihrer Praxis, wie schwierig es sei, dass Kinder sich während der kurzen Untersuchungstermine öffneten – zumal sie bei den Tätern gelernt hätten, möglichst nichts zu sagen.
Strafverfolgung vor Therapie?
Mit der Sachverständigen-Anhörung hat der Untersuchungsausschuss sich einem neuen Themenkomplex zugewandt: „Opferschutz und Gesundheitsfürsorge“. Dabei ging es auch um die umstrittene Empfehlung an Opfer, mit einer Therapie abzuwarten bis die Strafverfolgung abgeschlossen sei, damit die Aussage der Kinder und Jugendlichen nicht beeinflusst werde.
Eine entsprechende rechtliche Vorschrift gebe es nicht, stellte Petra Viebig-Ehlert vom Bundesjustizministerium klar. „Therapie ist in aller Regel nicht so problematisch wie Ermittlungsbehörden das denken“, sagte die Referentin für die Hilfe für Opfer von Straftaten. Das sei nur in ganz wenigen Fällen so – etwa, wenn jemand zu den Ermittlungsbehörden komme und berichte, dass in einer Therapie Straftaten aufgedeckt worden seien, die schon sehr lange zurückliegen.
Auslöser: Die monströsen Verbrechen von Lügde
Anlass zur Einsetzung des U-Ausschusses war der jahrelange sexuelle Missbrauch auf dem Campingplatz Eichwald im lippischen Lügde an der Landesgrenze zu Niedersachsen, der nach Bekanntwerden der monströsen Verbrechen im November 2018 bundesweit für Entsetzen gesorgt hatte. Über viele Jahre waren bis Ende 2018 zahlreiche Kinder von mehreren Männern sexuell missbraucht und vergewaltigt worden.
Die beiden Haupttäter waren 2019 vom Landgericht Detmold zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Der NRW-Landtag hatte 2019 einen Untersuchungsausschuss eingesetzt und in dieser Wahlperiode neu aufgelegt. Bislang war es unter anderem um die Rolle der Jugendämter und die Arbeit der Polizei gegangen.