Freie Nase, Baby-Haut: So fühlen sich Astronauten, wenn sie zur Erde zurückkehren

Seit nun fast zehn Monaten sitzen zwei Astronauten auf der ISS fest. Wenn sie bald endlich zurück auf die Erde kommen, werden sie einige Effekte spüren.
Es muss sich anfühlen wie eine schier endlose Odyssee: Seit mehr als neun Monaten sitzen Butch Wilmore und Suni Williams fest. Mehr als 400 Kilometer über der Erde. Auf der internationalen Raumstation ISS. Im vergangenen Juni brachen die beiden Astronauten zu ihrer Mission auf, die eigentlich nur eine Woche dauern sollte. Doch ihr Rückflug verzögert sich weiterhin. Ihr ursprüngliches Raumschiff „Starliner“ war wegen diverser Pannen leer zurück zu Erde geholt worden. Den Rückflug sollte SpaceX organisieren. Doch auch das Unternehmen von Elon Musk meldete zuletzt immer wieder Probleme mit seinen Schiffen. Der stern berichtete:
Nun nähert sich offenbar das Ende des unfreiwillig langen All-Aufenthalts. Am Sonntag dockte das Raumschiff, das die Astronauten zurück zur Erde bringen soll, an der ISS an. Zwar sind die beiden noch nicht wieder in heimischen Gefilden, doch schon jetzt beginnt die Wissenschaft, sich auf ihre Rückkehr vorzubereiten. Denn abseits von ihrer Arbeit auf der Raumstation werden die Astronauten wohl auch selbst zum Forschungsgegenstand werden: Selten war es möglich, Menschen zu untersuchen, die eine so lange Zeit im Weltraum verbracht haben. Wie wirkt sich die Schwerelosigkeit auf den menschlichen Körper aus? Wilmore und Williams könnten schon bald Antwort darauf liefern.
Endlich durchatmen: Astronauten fühlen sich im All durchgängig erkältet
Fest steht schon jetzt: Die beiden werden einige interessante Effekte bemerken, wenn sie wieder festen Boden unter den Füßen haben. Alan Duffy, Astrophysiker von der Swinburne University, erklärte gegenüber dem britischen „Guardian„, dass Wilmore und Williams sich auf gewisse Symptome einstellen müssen. Das Fehlen der Schwerkraft führe zu einem erheblichen und irreparablen Verlust an Knochendichte. Zudem verkümmerten die Muskeln, etwa in Armen, Beinen und dem Rumpf. Dies schließe auch das Herz ein, weil es das Blut nicht gegen die Schwerkraft pumpen, und so deutlich weniger arbeiten muss.
Zudem sei es möglich, auf der Erde endlich wieder richtig durchzuatmen, so Duffy: „Im Kopf sammelt sich [während der Zeit im All, Anm. d. Red] Flüssigkeit an, sodass man das Gefühl hat, ständig erkältet zu sein.“ Auch der Geruchssinn sei beeinträchtigt, „was im Übrigen wahrscheinlich gut ist, denn es stinkt dort oben, wie in einem Flugzeug, das zwei Jahrzehnte lang keine Besucher hatte und dessen Fenster nicht geöffnet wurden.“
Positiv sei, dass Wilmore und Williams sich nach ihrer Rückkehr wahrscheinlich fühlen werden, als hätten sie endlich eine neunmonatige Erkältung hinter sich gebracht. „Sie werden aber auch Schwierigkeiten beim Gehen haben, ihnen wird leicht schwindlig werden und sie werden schlecht sehen können.“
„Die Wiederherstellung ähnelt der Physiotherapie eines Koma-Patienten“
Die Flüssigkeitsansammlung verändere auch die Form der Augäpfel und schwäche die Sehkraft. Aus diesem Grund sehe man Astronauten an Bord oft eine Brille tragen, obwohl sie zu Beginn perfekt sehen konnten. In den meisten Fällen normalisiere sich die Sehkraft wieder, aber es könne sein, dass die Astronauten für den Rest ihres Lebens eine Brille benötigten, so Duffy.
„Wenn sie zurückkehren, ähnelt ihre Wiederherstellung der intensiven Physiotherapie eines Patienten, der aus dem Koma erwacht“, so der Astrophysiker.
Eine weitere Herausforderung sei, dass die Haut, wegen der geringen Reibung der Kleidung in der Schwerelosigkeit, eine „fast babyähnliche Empfindlichkeit“ entwickelt. Zurück auf der Erde hätten manche Astronauten das Gefühl, ihre Kleidung sei plötzlich rau wie Schmiergelpapier, so Duffy.
Strahlung im All bleibt gefährlichste Auswirkung
Die aber wohl gefährlichste Auswirkung eines längeren Aufenthalts im Weltraum ist die Strahlenbelastung, die das Risiko von Krebserkrankungen erhöhen kann. Die Erdatmosphäre und das Magnetfeld schirmen uns vor hoher Strahlung ab, im Weltraum aber haben die Menschen diesen Schutz nicht.
„Astronauten sind im Weltraum nicht nur einer höheren Strahlung ausgesetzt als auf der Erde“, so die Nasa, „sondern die Strahlung, der sie ausgesetzt sind, könnte auch ein erhöhtes Risiko darstellen.“
Die Rückkehr der Astronauten sei also selbst ein Forschungsprojekt, so Duffy: „Es kann Aufschluss darüber geben, wie Patienten auf der Erde zu behandeln sind, die an Krankheiten leiden, die lange Krankenhausaufenthalte erfordern – ein Leben ohne Schwerkraft hat viele der gleichen Auswirkungen wie Bettlägerigkeit.“
Da die meisten Forschungsarbeiten bisher auf sechsmonatigen Aufenthalten beruhen, werden Wilmore und Williams für ihr Team von Ärzten und Wissenschaftlern besonders interessant sein.
Mentale Belastung ist immens
Aber auch abgesehen von den körperlichen Auswirkungen ist die mentale Belastung der Astronauten immens, besonders wenn man so lange wie Wilmore und Williams im All festhängt. „Jeder, der schon einmal an einem Flughafen festsaß, kann sich das vorstellen“, so Duffy. „Und jetzt stellen Sie sich vor, sie können, während sie warten, die ganze Zeit ihren Heimatort sehen.“ Die Widerstandsfähigkeit dieser Menschen sei „wirklich erstaunlich“, so der Astrophysiker.
Doch auch an den resilientesten Menschen gehen die Missionen im All oftmals nicht spurlos vorbei. Angstzustände und Depressionen seien ob der Länge der Einsätze und der extremen Belastungen keine Seltenheit, erklärt Brad Tucker, Astrophysiker an der Australian National University gegenüber dem „Guardian„.
Doch die Eindrücke können in manchen Fällen auch einen positiven Effekt haben. So berichteten viele Astronauten in der Vergangenheit von etwas, das Experten „Overview-Effekt“ nennen. Der Blick von oben auf die Erde führe bei einigen zu einem Gefühl einer tiefen Verbundenheit zur Menschheit und ihrer Zerbrechlichkeit. „Manche Leute nennen es ein Gefühl der Inspiration. Andere nennen es ein Gefühl der Unzulänglichkeit, wenn sie sehen, wie groß die Welt ist“, so Tucker.