Meinung: Das Pflichtjahr für die Jungen kommt. Doch auch die Boomer sind jetzt gefragt

Wenn es nach Friedrich Merz geht, kommt mit der Wehrpflicht auch eine neue Art von Zivildienst zurück – ein Pflichtjahr. Wer soll es leisten? Und: Was ist gerecht?

Das Pflichtjahr wird kommen. Warum? Weil auch die Wehrpflicht wohl wiederkommt. Man muss sich nur die Mehrheitsverhältnisse im neuen Bundestag ansehen. Die CDU/CSU und die AFD sprechen sich klar dafür aus. In der SPD gab es auch schon Überlegungen, sie würde sich als Koalitionspartner der Idee wohl nicht verschließen. Macht zusammen 65,8 Prozent, eine satte Mehrheit. 

Zeit also, dass wir uns damit beschäftigen, denn es geht uns an. Nicht nur junge Menschen und ihre Eltern, sondern uns alle. Wir stehen vor Aufgaben, die die Gesellschaft nur in einem Kraftakt gemeinsam lösen kann.

Im Wahlprogramm der CDU heißt es „Gesellschaftsjahr“ – ein neuer, noch wenig bekannter Oberbegriff, unter den die Wehrpflicht und das soziale Pflichtjahr fallen. Friedrich Merz ist fest entschlossen, es einzuführen. Man würde es wahlweise bei der Bundeswehr oder im zivilen Bereich ableisten können. 

Nach dem Willen der CDU und CSU sollen ausschließlich junge Menschen verpflichtet werden, es gibt aber auch andere Modelle, die ältere Generationen mit einbeziehen – nachlesen kann man das in der Hertie-Machbarkeitsstudie mit dem Titel „Ein Gesellschaftsdienst für alle“ vom vergangenen Jahr. Vorbilder sind Länder wie Dänemark und Schweden, die so eine Dienstpflicht schon eingeführt haben. Alles wie früher also, bevor die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt wurde? Nicht ganz. Von einer Gewissensprüfung für Kriegsdienstverweigerer redet niemand mehr.

Die lautstarken Kritiker des Pflichtjahrs sind geschichtsvergessen

Das Thema ist politisch heiß umstritten. Es sei ungerecht, der jungen Generation auch noch diese Last aufzubürden. Jener Generation, der jetzt etwa eine Billion Euro zusätzliche Schulden aufgehalst würden, die besonders stark unter den Jahren der Pandemie zu leiden hatte und die die Folgen unseres rücksichtslosen Umgangs mit der Umwelt ausbaden müsse – Klimawandel, Artensterben, schwindende Rohstoffvorräte. „Ein Pflichtjahr wäre der Gipfel der Unverschämtheit“, polemisiert der Blogger Sascha Lobo. Manche Politiker sprechen von einem „schweren Freiheitseingriff“ (Noch-Justizminister Marco Buschmann) – gerade „in einer Lebensphase, in der die Freiheit zur Selbstentfaltung am allerwichtigsten ist“ (FDP-Fraktionsvize Gyde Jensen). Es gibt zudem auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein Gesellschaftsjahr.

Jedem, der früher seinen Dienst an der Gesellschaft ganz selbstverständlich verrichtet hat, dürften diese seltsam geschichtsvergessenen Argumente erstaunen. Zumal die Aussetzung der Wehrpflicht große Personallöcher im zivilen Bereich hinterlassen hat. Noch im Jahr 2010 gab es etwa 77.000 Zivis plus geschätzte 100.000 sogenannte freigestellte Helfer, die sich für sechs Jahre bei Organisationen im Zivil- oder Katastrophenschutz wie der Feuerwehr, dem TWH oder Deutschen Roten Kreuz verpflichtet hatten und deshalb von der Wehrpflicht freigestellt waren. Diese Arbeitskräfte kamen nie mehr zurück.

Es geht nicht darum, wie frei junge Menschen ihre Träume ausleben können

Heute geht es längst nicht mehr nur darum, wie frei junge Menschen ihre Träume ausleben können. Immer wichtiger wird doch die Frage: Werden wir ohne Pflichtdienste die Aufgaben bewältigen, die auf Deutschland in einer immer unsichereren Welt zukommen? 

Nehmen wir zum Beispiel die immer häufiger auftretenden Umweltkatastrophen. Nur in einer nationsweiten Anstrengung konnte das Hochwasser Mitte Juli 2021 bewältigt werden, das neben dem Ahrtal in Rheinland-Pfalz auch in anderen Bundesländern schwere Verwüstungen anrichtete. Soldaten der Bundeswehr unterstützten damals die Ehrenamtlichen des Zivil- und Katastrophenschutzes.

Und was wäre, wenn tatsächlich ein Nato-Land angegriffen würde – jetzt, nachdem auf den militärischen und atomaren Schutz durch die USA kein Verlass mehr ist? Wie gut wären wir dann vorbereitet?

„Kriegstüchtigkeit“ meint auch den Zivil- und Katastrophenschutz

Die öffentliche Diskussion über diese Frage ist zu verengt auf die Bundeswehr und die Wehrpflicht – ich aber meine hier den Zivil- und Katastrophenschutz. Als der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius im vergangenen Sommer mahnte, Deutschland müsse bis zum Jahr 2029 kriegstüchtig werden, waren die großen Hilfsorganisationen zwar nicht erwähnt, aber mit gemeint – das Technische Hilfswerk (THW), das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die Johanniter-Unfallhilfe, die Malteser und einige weitere. Denn die gesetzlich klar definierte Aufgabe der Bundeswehr im Kriegsfall ist nicht der Schutz der Bevölkerung, sondern der Schutz der verteidigungsrelevanten Infrastruktur.

Im Nato-Verteidigungsfall wären diese Hilfsorganisationen also ein unverzichtbarer Pfeiler des Heimatschutzes. Deutschland wäre im Zentrum des Geschehens – das wäre unvermeidlich.

Das Szenario: Züge mit Schwerverwundeten führen durch unser Land und würden in eilig aufgebauten „Hauptverbandsplätzen“ und unseren schon jetzt an Personalnot darbenden Krankenhäusern versorgt, bevor sie weiter in ihre Heimatländer transportiert werden könnten – oder zurück an die Front. Flüchtlingsströme kämen aus angegriffenen Nato-Staaten und müssten versorgt werden. Täglich müssten Abertausende Liter Trinkwasser, Diesel, Lebensmittel und Ausrüstung für die Soldatinnen und Soldaten an die Front transportiert werden. Die Hilfsorganisationen müssten das leisten. Und jetzt nehmen wir hypothetisch an, dass dann auch noch ein Extremwetterereignis wie die landesweite Hochwasserkatastrophe 2021 dazukäme.

Das Pflichtjahr allein ist noch keine Lösung für den Personalbedarf

Dann wird jedem klar: Der Zivil- und Katastrophenschutz muss massiv gestärkt werden. Hier können wir den Grünen für ihre letzte Amtshandlung als Regierungspartei dankbar sein: Ein beträchtlicher Teil der 500 Milliarden Euro Sondervermögen soll nun auch an die Hilfsorganisationen fließen. Das bedeutet: neue Standorte und Gebäude, neue Fahrzeuge und Gerätschaften, und natürlich – mehr Personal. Können jetzt Gesellschaftsjahr-Leistende allein diese Lücke füllen? 

Das wäre zu kurz gedacht. Die wichtigste Säule der großen Hilfsorganisationen sind seit jeher, auch zu Zeiten der Wehrpflicht, ehrenamtliche Helfer. 

Das Technische Hilfswerk zum Beispiel verfügt über etwa 88.000 von ihnen. Daneben gibt es etwa 700 Bundesfreiwilligendienst-Leistende (kurz: Bufdis), die ausgebildet werden müssen und dann ein Jahr in Vollzeit absolvieren. Diese Ausbildung ist das Nadelöhr. Käme das Gesellschaftsjahr, könne man derzeit 2000 Plätze anbieten, sagt die Präsidentin der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk, Sabine Lackner.

Die Hilfsorganisationen nämlich haben die gleichen Probleme wie die Bundeswehr. Kapazitäten und Strukturen wurden abgebaut, weil sie vermeintlich nicht mehr gebraucht wurden.

Auch die Freiwilligendienste müssen gestärkt werden

Die Zahl der Bufdis nimmt seit Jahren ab, und lange hat das Niemanden in der Politik gestört. Im Gegenteil: Gerade das Budget für die Freiwilligendienste war in den Haushaltsdebatten der vergangenen zwei Jahren von massiven Kürzungen bedroht, die in letzter Minute verhindert wurden.

Das ist die Absurdität in der Debatte um das verpflichtende Gesellschaftsjahr: Während darüber diskutiert wird, wird an denen, die freiwillig schon jetzt etwas für die Gesellschaft leisten wollen, gespart. Sie bekommen ein Taschengeld von wenigen hundert Euro, wovon sie, abhängig vom Arbeitgeber, oft sogar noch ihre Anreisekosten bestreiten müssen. 

Seit Jahren schon fordern Hilfsorganisationen mehr Anreize für die Freiwilligen, zum Beispiel eine Anhebung des Taschengelds auf den Bafög-Satz. Wegen all dieser zu überwindenden Hürden sind sie, wen wundert´s, derzeit noch nicht so erpicht auf ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr. Das machten hochrangige Vertreter des DRK, der Malteser und Johanniter in einer Diskussionsrunde der Fachtagung „Kritis“ in Berlin Anfang März klar, in der es darum ging, wie man sich gemeinsam mit der Bundeswehr auf den Verteidigungsfall vorbereitet. Einzig der Präsident des THW Berlin, Sebastian Gold, erwärmte sich dort für einen Pflichtdienst, betonte aber, das sei seine Privatmeinung, nicht die offizielle Haltung des THW.

Das Pflichtjahr wirkt gegen die soziale Zersplitterung

Jenseits aller Kriegsangst treibt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Debatte über das Gesellschaftsjahr seit Beginn seiner zweiten Amtszeit voran. Ihm geht es „um den gesellschaftlichen Zusammenhalt als Antwort auf die destruktiven Seiten der sozialen Zersplitterung“. Damit Menschen aus ihrer Blase herausfinden, anderen Menschen näherkommen, die sie sonst nie kennenlernen würden – reich und arm, Abiturienten und Hauptschüler, jung und alt, Stadt und Land, Ost und West, Nord und Süd, diese oder jene Religion, Kultur, Herkunft, Orientierung, Identität.

Den Zusammenhalt wieder stärken – das ist das vielleicht noch gewichtigere Argument für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr als die pure Notwendigkeit. Die Dienstpflicht jetzt schon einzuführen aber, wie viele Politiker das wollen, wäre verfrüht – erst müssen die Organisationen besser ausgestattet werden, um nicht zu schnell an ihre Kapazitätsgrenzen zu stoßen. Es ist ein Langzeitprojekt für die kommenden Jahre.

Und als Einzelmaßnahme wird so ein Gesellschaftsjahr seine zusammenschweißende Wirkung nicht voll entfalten. Wir alle sind gefordert mitzumachen, uns füreinander zu engagieren: wenn nicht im Pflichtjahr oder als Bufdi, dann als Ehrenamtliche.

Dann müssten wir auch die leidige Diskussion Alte gegen Junge nicht mehr führen. Übrigens, was kaum jemand weiß: Den einjährigen Bundesfreiwilligendienst können alle machen, auch Arbeitslose, Vorruheständler und Rentner.

Die Bereitschaft, sich für die Gesellschaft zu engagieren, ist da – 29 Millionen Menschen in Deutschland üben Ehrenämter aus. In einer IPSOS-Umfrage vergangenes Jahr sprachen sich 73 Prozent der Befragten für ein Pflichtjahr aus, auch zwei von drei jüngeren Menschen plädierten dafür.

Das ist ein gutes Zeichen. Ja, vielleicht ist unsere Gesellschaft noch nicht kriegstüchtig, doch viele im Land spüren, dass in einer drastisch veränderten Weltlage auch wir uns verändern müssen.