Meinung : Duzen: Warum es oft Heuchelei ist

Duzen: Klingbei und Merz duzen sich jetzt. Sollen sie. Sie begegnen sich auf Augenhöhe. Ansonsten gaukelt das „Du“ oft eine Nähe vor, die es nicht gibt. 

Um es vorweg zu sagen: Ich lasse mich gerne duzen. Im Fitness-Studio von wildfremden Leuten, weil es da lockerer zugeht. Von Kollegen und Kolleginnen, wozu selbstredend Praktikanten und Praktikantinnen gehören. Wenn die Kellnerin mich duzen will – von mir aus. Duze ich sie eben zurück. 

Aber es gibt Grenzen. Dass der designierte Kanzler Friedrich Merz (CDU) und der Parteivorsitzende Klingbeil (SPD) sich jetzt duzen, sei ihnen gegönnt. Die begegnen sich auf Augenhöhe. Ansonsten gaukelt das „Du“ oft eine Nähe vor, die es nicht gibt. 

Die meisten meiner Chefs und Chefinnen habe ich gesiezt und fand das angemessen. Geduzt habe ich die meisten erst, als sie aufstiegen und das „Du“ nicht mehr zurückzunehmen war, weil es komisch gewesen wäre. Und ehrlich gesagt: Es wurde dann bisweilen auch ziemlich komisch. 

Duzen ist Heuchelei

Das „Du“ für alle, das um sich greift wie eine Seuche, ist Heuchelei. In Firmen, in denen noch vor Jahren strenge Hierarchien herrschten und man selbstredend nur Kolleginnen und Kollegen duzte, wenn überhaupt, sind plötzlich alle per Du. Der Pförtner darf die Vorstandsvorsitzende duzen, was sie im Zweifel nicht davon abhält, ihn rauszuschmeißen. 

Das „Sie“ hat in der deutschen Sprache eine lange Geschichte, weil es Macht- und soziale Verhältnisse ausdrückte. Das ist nicht von gestern, sondern meistens eine schlichte Tatsache. Den Firmen geht es nicht darum, mit dem Duzen einen Wandel zu schaffen. Hierarchieabbau, das Reden auf Augenhöhe, bla, bla, bla. Firmen wollen ihre Belegschaft einlullen. 

Das „Sie“ als Grenze

„Du, leider kannst du keine Gehaltserhöhung kriegen, das ist echt nicht drin.“

 „Aber klar doch, Du, verstehe ich doch, geht ja hier ums Ganze, wir sind ja eine Familie.“ 

Nein, sind wir nicht. Wir haben eine Geschäftsbeziehung miteinander. Es geht um Leistung, Geld und um Arbeitsplätze. Was geschieht, wenn sich Chefetage und Betriebsrat zu nahe sind, konnte man vor Jahren bei VW beobachten, wo Vorstand Peter und Personaler Helmuth dem Klaus vom Betriebsrat und seinen Mitstreitern ein paar Luxusreisen samt Prostituierten spendierten. 

Es gibt Grenzen, die man einhalten sollte, und dazu eignet sich das „Sie“ hervorragend. Das gilt nicht nur für die Arbeit, sondern auch an der Uni, wo Lehrkräfte Noten verteilen und bisweilen unangenehmes Feedback geben müssen. Das gilt bei Verträgen für Dienstleistungen. Wer verklagt schon gerne den Handwerker, den er duzt, weil er gepfuscht hat? Wer mahnt schon gerne bei säumigen Kunden und Kundinnen die Zahlung der Rechnung an, wenn es sich dabei nicht um Herrn Müller und Frau Meyer handelt, sondern um Gabi und Thomas, die doch so nett sind und mit denen man es sich nicht verderben will?  

Überall, wo Macht ungleich verteilt ist, ist das „Sie“ eine wunderbare Grenze. Statt das „Du für alle“ sollten Belegschaften auf Gehaltsgerechtigkeit für alle pochen. Das bereinigte Gender-Pay-Gap beträgt in Deutschland noch immer sechs Prozent. Nachdem Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin während der Corona-Zeit gezeigt haben, wie produktiv sie zu Hause sind, holen viele Firmen ihre Mitarbeitenden jetzt zurück ins Büro, was vor allem Eltern das Leben schwerer machen dürfte. Dass sie ihre Chefs und Chefinnen duzen, hilft beim Organisieren des Familienalltags kein Stück.

2024 haben Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Deutschland 638 Millionen unbezahlte Überstunden geleistet. Wer pocht auf Bezahlung von Überstunden oder weigert sich gar, wenn er den Chef oder die Chefin duzt? Ein teuer bezahltes „Du“. Bezahlt Überstunden, schafft Betriebskindergärten, sorgt für Gehaltsgerechtigkeit, seid großzügig beim Homeoffice. Das „Du“ könnt Ihr Euch schenken.