Kanzlerwahl: Wer waren die Abweichler?

Schwarz-roter Schockmoment: Warum haben so viele Abgeordnete Friedrich Merz die Zustimmung verweigert? Die Frage dürfte die Koalitionäre noch länger beschäftigen.

Was war da los? Lars Klingbeil hetzt auf der Fraktionsebene des Reichstags über die Flure, das Handy in der Hand und schüttelt den Kopf. Der SPD-Chef will die Frage nicht beantworten, kann es wohl auch nicht, nicht jetzt.

Es ist 10.17 Uhr an einem denkwürdigen Dienstag, nur wenige Augenblicke, nachdem sich ein paar Stockwerke weiter unten im Plenarsaal ein Novum in der bundesrepublikanischen Geschichte abgespielt hat. Ein Moment, der Schwarz-Rot noch länger beschäftigen dürfte: Friedrich Merz fällt im ersten Wahlgang als Kanzler durch. 

Sofort werden Krisensitzungen einberufen, Klingbeil eilt zu den Büroräumen der Union: Klären, wie es weitergeht. Doch schon in diesen Momenten der Ungewissheit beginnt schon das Rätselraten in den Reihen von CDU/CSU und SPD, startet der Kampf um die Deutungshoheit: Wer könnten die Abweichler sein, die Schwarz-Rot diesen katastrophalen Fehlstart beschert haben? Und was sind ihre Motive? 

Union und SPD: Knappe Kanzlermehrheit

In den Stunden bis zur tatsächlichen Wahl von Merz wird in den Fraktionen viel spekuliert, werden Schuldige und Erklärungen für das gesucht, was sich wohl niemals abschließend klären lässt: Die Abstimmung hat nicht namentlich stattgefunden, sie war geheim – ein potenzieller Reiz, unerkannt auszuscheren.

Doch es ist mehr als die Schuldfrage, die die Koalitionäre noch lange umtreiben wird. Weit über die erste gemeinsame Niederlage hinaus müssen sich die Spitzenleute fragen: Besteht dieses Risiko ab jetzt bei jeder Abstimmungen? Wie stabil steht Schwarz-Rot überhaupt? 

Zwölf Stimmen zur „Kanzlermehrheit“ sind nicht viel Puffer, das wissen alle Beteiligten. Am Montag haben im ersten Wahlgang sogar 18 Stimmen gefehlt. Weit mehr also, als für einen Denkzettel nötig gewesen wären.  

Auf Probeabstimmungen im Vorfeld haben die Fraktionen von Union und SPD dennoch verzichtet, sich offenbar sicher wähnend, dass es schon reichen würde. Bei den Grünen hingegen hatten manche Wetten laufen, ob Merz es im ersten Wahlgang schafft oder durchfällt. Schließlich hätten sowohl Merz als auch Klingbeil bei der Erstellung ihrer Kabinettslisten auch eigene Leute verprellt, Hoffnungen enttäuscht, Karrierepläne durchkreuzt. Ist da was dran?

In der SPD ist man fest überzeugt, nicht selbst für den Schlamassel verantwortlich zu sein. Merz als Kanzler scheitern zu lassen, würde die Union nur noch weiter nach rechts rücken lassen, in die Arme der AfD, argumentieren die einen. Beim eigenen Wahlergebnis (16,4 Prozent), den noch schlechteren Umfragewerten (15 Prozent) und den vielen Verhandlungserfolgen (sieben Ministerien und wichtige Schlüsselressorts) wäre es auch fahrlässig, argumentieren andere. Devise: Besser wird’s für uns erstmal nicht. 

Lars Klingbeil sieht am Montagmittag offenbar keinen Anlass, an seinen Leuten zu zweifeln. Laut dem Parteichef gebe es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die SPD nicht vollständig gestanden habe, heißt es aus Fraktionskreisen nach der ersten Krisensitzung der SPD-Abgeordneten. 

Was das im Umkehrschluss bedeutet, sagt Klingbeil zwar nicht, ist aber auch so klar: Daran ist die Union schon allein schuld. 

Wer wollte Friedrich Merz aufhalten?

Selbst bei erklärten Merz-Kritikern in der Union herrscht zwischenzeitlich Ratlosigkeit. Ja, es gebe da zwei, drei Leute, die eine Rechnung offen hätten. Aber so viele? Von Absprachen zum Schaden von Merz will niemand etwas gehört haben. 

Selbst jene aus CDU und CSU, die Schwarz-Rot von Herzen ablehnen, halten das Vorgehen für unverantwortlich. Ein Scheitern schon bei der Wahl würde nicht nur Merz schädigen, sondern alle anderen in Verantwortung: die designierten Minister, den neuen Fraktionschef Jens Spahn. Die Folge wären wohl Neuwahlen. 

Viele gehen daher von einer „Summe von Einzelstimmen“ aus. Die meisten Unionsabgeordneten geben sich sicher: Einige davon kamen aus der eigenen Fraktion. Die Vorwürfe in Richtung Koalitionspartner hielten sich auch deshalb in Grenzen. 

Auch die Genossen wollen nicht ausschließen, dass es unter ihnen Abweichler gegeben haben könnte. Jene, die partout keine Neuauflage von Schwarz-Rot wollten, nicht schon wieder. Solche, die Merz die Migrations-Abstimmung mit der AfD nicht verziehen haben könnten. Oder auch welche, die aus persönlichem Frust über die Neuaufstellung der SPD in Regierung und Fraktion handelten. Klingbeil hat alles auf sich zugeschnitten – ohne Rücksicht auf Verluste. 

Allerdings sind die meisten in der SPD überzeugt: Hätte eine größere Anzahl aus den eigenen Reihen aufbegehrt, hätte man das doch mitbekommen. 

Oder nicht? Die Frage stellt man sich nun auch in der Union. Mit Merz hätte so mancher eine Rechnung offen. Aus persönlicher Enttäuschung, weil sie bei der Postenvergabe übergangen wurden. Merz hat ein Kabinett aus Loyalisten zusammengestellt, ganze Landesverbände übergangen, erfahrene Politiker ausgelassen, dafür Vertraute und Quereinsteiger befördert. Mancher sah das als mutig an, andere hielten ihm einen Bruch mit geübten Verfahren einer Volkspartei vor. Der will hier durchregieren? So nicht! 

Ein weiterer Grund könnte die politische Abkehr von Merz sein: Vielen Konservativen in der Union galt er als Heilsbringer, als Verteidiger der Schuldenbremse, als jener, der die Grenzen für Flüchtlinge schließt. Nach der Wahl kam Merz in der Realität an, musste Kompromisse machen, sich an geltendes Recht halten, das Staatssäckel füllen – also so manches Versprechen brechen. Manche in seiner Partei legen ihm das als Wortbruch aus, mancher hat seither mit ihm gebrochen.

Tja, woran hat’s gelegen? Und an wem? Diese Fragen sind jetzt da, sie säen Zweifel, womöglich Zwietracht zwischen den neuen Partnern. Einig ist man sich in immerhin im Urteil: Dass Merz im ersten Anlauf durch gerasselt ist, sieht verdammt schlecht aus. Vor allem da draußen, bei den Bürgerinnen und Bürgern.