Netzwerk „764“: Sie mobben, sie missbrauchen, sie hetzen Kinder in den Tod

In Hamburg wurde ein mutmaßlicher Sadist festgenommen. Der 20-Jährige soll Mitglied im Netzwerk „764“ gewesen sein. Was hat es mit der Gruppierung auf sich?

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel enthält Beschreibungen schwerster, teils sexualisierter Gewalt – auch an Kindern.

Selbst einem erfahrenen Beamten wie dem Hamburger Polizeipräsidenten Falk Schnabel brach am Mittwoch auf der Pressekonferenz von Polizei und Landeskriminalamt mehrfach die Stimme weg. „Dieses Strafverfahren zeigt uns Abgründe fast unvorstellbarer sexuell motivierter Gewalt auf, die nur schwer auszuhalten sind“, so Falk.

Es geht bei diesem Termin um die Verhaftung eines heute 20-Jährigen, der seit Jahren im Internet psychisch labile Kinder und Jugendliche über Online-Plattformen und Spiele gezielt angelockt, sich ihr Vertrauen erschlichen, sie missbraucht und in einem Fall sogar ein Kind in den Suizid getrieben haben soll. Am Dienstag wurde der Verdächtige, der sich im Internet „White Tiger“ nannte, in seinem Elternhaus von Spezialkräften der Polizei festgenommen. Die Ermittlungsbehörden gehen davon aus, dass er Mitglied in einem international aktiven Netzwerk war, das sich „764“ nennt. Was hat es damit auf sich?

Netzwerk „764“: Gegründet von einem 15-Jährigen in den USA

„764“ ist ein dezentrales Onlinenetzwerk, das 2021 von dem damals 15-jährigen Bradley Chance Cadenhead in Texas gegründet wurde. Besonders aktiv ist das Netzwerk auf den Social-Media-Plattformen wie Discord und Telegram, aber auch in Online-Games wie Minecraft. 

Ideologisch ist die Gruppierung schwierig zu greifen. Sie steht rechtsextremen und esoterischen Praktiken nahe und ist laut FBI eng mit dem satanistischen Netzwerk „Order of Nine Angels“ verwoben. Die Sicherheitsbehörden in den USA stufen die Gruppierung als „Terrornetzwerk“ ein. Die Ideologie fußt auf einer besonders extremen Missinterpretation des sogenannten „Akzelerationismus“. Eine Vorstellung, nach der das Risiko eines Weltuntergangs steige, weil sich der Kapitalismus immer weiter beschleunigt. 

In extremistischen Kreisen wird diese soziologische Denkschule als Rechtfertigung für Terror missbraucht. Entweder, um den gesellschaftlichen Kollaps zu erreichen, oder, weil der Weltuntergang so nahe sei, dass ohnehin keine Strafe zu befürchten sei.

Im Mittelpunkt von „764“ steht die sogenannte „Sextortion“ als Praktik, abgeleitet von den englischen Wörtern „Sex“ und „extortion“ – frei übersetzt also „sexuelle Erpressung“. 

Die Motive der Täter sind dabei offenbar unterschiedlich. Laut einer Recherche der „Washington Post“ reichen sie von Sadismus über Misanthropie bis hin zu Pädophilie. In einigen Fälle wurden erpresste kinderpornografische Inhalte zudem im Darknet angeboten, die aus Sextortion-Verbindungen stammen sollen. 

Der Name „764“ geht offenbar auf die Postleitzahl des Heimatortes ihres Gründers Cadenhead zurück. Er wurde 2023 unter anderem wegen des Besitzes kinderpornografischer Inhalte zu einer Haftstrafe von 80 Jahren verurteilt. 

Perfide Methoden, um ihre Opfer zu manipulieren

Ihre Opfer suchen sich die Täter meist auf frei zugänglichen Plattformen, erst später verlagern sie ihr manipulatives Vorgehen in privatere Kommunikationsräume. Dabei gehen sie in der Regel nach dem gleichen perfiden Muster vor.

Auf Gaming-Plattformen, bei Streamingdiensten oder auch in sozialen Netzwerken halten Täter gezielt Ausschau nach jungen Menschen, die durch ihr Verhalten oder ihre Postings verletzlich wirken. Bevorzugte Ziele sind laut Europol Minderjährige zwischen 8 und 17 Jahren, vor allem, wenn diese psychische Probleme oder gar Suizidgedanken haben. Teilweise infiltrieren die Täter im Rekrutierungsprozess sogar Selbsthilfe-Communitys. Auch Angehörige von ethnischen Minderheiten oder aus der LGBTQ+-Szene werden, wenn die Täter einen labilen Zustand zu erkennen glauben, gehäuft zum Opfer. 

Die Kontaktaufnahme erfolgt zunächst mit harmlosen Interaktionen. Die Täter gaukeln Interesse vor, geben sich verständnisvoll. Durch ihre freundliche und sorgsame Art – „Grooming“ genannt – erschleichen sie sich Vertrauen. Manche bekunden schon früh angebliche Liebesgefühle oder verschicken Geschenke (bezeichnet als „Love-Bombing“), um das Opfer an sich zu binden. Meist sammeln die Täter da längst persönliche Infos ihres Gegenübers – teils freiwillig preisgegeben, teils selbst recherchiert –, ehe sie die Kommunikation in private Chats bei verschlüsselten Messengerdiensten verlagern.

Die Täter konkurrieren um die extremsten Misshandlungen

Dort schlägt die Stimmung dann oft um – spätestens, wenn die Täter über explizite Inhalte wie intime Fotos oder Videos verfügen, mit denen sie das Opfer erpressen können. Unter Androhung, diese an Familienmitglieder und Freunde zu schicken oder sie ins Netz zu stellen, fordern die Täter dann weitere und immer extreme Inhalte ein – ein Teufelskreis, der die Opfer zunehmend ausliefert und aus ihrem sozialen Umfeld isoliert.

Besonders perfide an dem System: Die Täter konkurrieren in eine Art Wettbewerb. Besonders extreme Bilder und Videos der Opfer werden wie Trophäen gefeiert und lassen sie in der Hierarchie der Gruppe aufsteigen. 

In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Mitglieder von „764“ festgenommen und verurteilt. Etwa im US-Bundesstaat North Carolina, aber auch in Griechenland. In den genannten Fälle zwangen die Täter ihre Opfer unter anderem dazu, sich selbst zu verletzten, Familienangehörige anzugreifen oder Haustiere zu töten. 

Im aktuellen Fall aus Hamburg soll der mutmaßliche Täter an mehr als 100 solcher sadistischen Fälle beteiligt gewesen sein. Unter anderem soll er einen 13-jährigen Teenager in den USA in den Suizid getrieben haben.