Tim Raue: „Ich kauere an der Wand und versuche, nicht rauszugucken“

Im Interview erzählt Tim Raue von seinem neuen Restaurant im Berliner Fernsehturm, seiner Höhenangst und warum Deutsche ein Problem mit ihrer kulinarischen Identität haben.
203 Meter über Berlin, zwischen DDR-Nostalgie und Sterneküche: Tim Raue hat Spektakuläres gewagt und ein Restaurant im rotierenden Fernsehturm eröffnet. „Sphere“ heißt das Projekt, das deutsche Küche neu definieren soll – mit Königsberger Klopsen für 28 Euro und einer spektakulären Aussicht. Das Paradoxe: Der Sternekoch leidet unter Höhenangst und traut sich nicht, in seinem eigenen Restaurant zu essen. Die Küche ist nur 22 Quadratmeter groß, in ihr darf nicht einmal gebraten werden – und dennoch schafft es Raue, hier täglich im Schnitt 850 Gäste zu bewirten. Wie das funktioniert und warum deutsche Küche mehr als nur Touristenspektakel sein sollte, erklärt Raue im stern-Interview.
Herr Raue, Sie haben massive Höhenangst – und eröffnen trotzdem ein Restaurant in 207 Metern Höhe. Das ist schon ziemlich paradox, oder?
Ich verfüge, wie meine Frau so liebevoll sagt, über eine unfassbare Naivität. Ich klammere viele Dinge in Entscheidungsprozessen völlig aus. Beim Fernsehturm dachte ich nur daran, was das für ein Wahrzeichen für Berlin ist, was wir kulinarisch zeigen können. Beim ersten Besuch lief es gut. Beim zweiten knickten mir die Beine weg – das kann ich nicht kontrollieren. Dann kauere ich mit Schiss an der Wand und versuche, nicht rauszugucken. Das ist jetzt der Fifty-Fifty-Joker bei jedem Besuch.
Bei der Eröffnung ist das Kassensystem zusammengebrochen. Schlechte Vorbereitung oder mangelhafte deutsche Digitalisierung?
Das war ein französisches Unternehmen! Die haben ein Kassensystem für eine Attraktion installiert, aber nicht für Gastronomie. Ein Bondrucker für die Küche war in einer Bar versteckt und hat tausende Bons ausgespuckt, die nie ankamen. Über eine Woche hatten wir keinen Support, mussten auf Papier arbeiten und der Hälfte der Gäste absagen. Aber man lernt am schnellsten durch Schmerz – heute schaffen wir 850 Gäste am Tag.
Zehn Restaurants, TV-Shows, Kreuzfahrtschiffe. War der Fernsehturm ein strategischer Schachzug für Ihr Business-Imperium?
Hätten Sie mich das vor anderthalb Jahren gefragt, hätte ich sofort gesagt, ja, auf jeden Fall. Heute frage ich mich: Ist es das wert? Wenn du 850 Gäste am Tag hast und 15 bis 20 sich aufregen, ist das eine Quote, mit der du leben musst. Was die Nachfrage angeht, können wir uns aber null beschweren.
Wie viele Gäste müssen denn täglich bei Ihnen essen, damit sich das rechnet?
Das Restaurant im Fernsehturm funktioniert als Attraktion sehr, sehr gut. Der Laden lief vor meiner Zeit bombastisch, läuft jetzt bombastisch und wird auch nach mir bombastisch laufen. Es geht eher darum, so wenig wie möglich Beschwerden zu haben.
Ihr Küchenchef ist Ostberliner, Sie selbst stammen aus Westberlin. Kochen Sie anders?
Nein, aber die Erinnerungsgeschichten sind andere. Er spricht von Soljanka und Broiler, ich von Königsberger Klopsen. Von Anfang an war klar: Der Turm steht im Osten, für die Menschen dort war er ein Ort, an dem sie größer, höher, schneller waren als der Westen. Das respektvoll einzubinden war vom ersten Moment an wichtig.
Sind Sie hier das erste Mal mit der ostdeutschen Küche konfrontiert worden?
Eigentlich keine, weil ich schon vor zehn, zwölf Jahren das Restaurant „La Soupe Populaire“ in der Bötzow Brauerei im Osten aufgemacht habe und dann die „Villa Kellermann“ in Potsdam hatte. Da bekam ich schon Zugang dazu. Deshalb wollte ich auch keine Burger oder Aperol Spritz, sondern eine strikt herkunftsbezogene Küche aus Berlin und Brandenburg. Gute deutsche Küche gibt es viel zu wenig.
28 Euro für ein Schnitzel, 10,50 Euro für den Brotkorb – wie rechtfertigen Sie das?
Wir haben einen Logistikaufschlag – jede Fahrstuhlfahrt muss bezahlt werden. Dafür hast du einen Ausblick, den es kein zweites Mal in Berlin gibt. Wir haben eine Gewinnmarge von maximal zehn Prozent und kalkulieren fair. Ich habe ein reines Gewissen und schlafe wie ein Baby.
Königsberger Klopse: hier 28 Euro, in Ihrem Sternerestaurant 44 Euro. Schmeckt man 16 Euro Unterschied?
Hier ist es eine Geschmacksmarinade mit Kalbfleisch. Im Restaurant „Tim Raue“ setzen wir Kalbskopf an, marinieren Kalbsbries und Kalbszunge einzeln, nehmen das feinste Rückenfleisch, dämpfen zweimal. Das ist vom Wareneinsatz das Dreieinhalbfache.
Markenzeichen Ihrer Küche sind die intensiven Aromen. Essen Sie privat auch so scharf?
Viel schärfer! Wenn ich so abschmecken würde, wie ich es für richtig halte, hätten wir ein Problem. Wenn du im Restaurant „Tim Raue“ sitzt, und es ist schärfer als sonst, dann bin ich da.
Sie kontrollieren in der Küche – aber wer kontrolliert den Service, wenn Sie nie als Gast da sind?
Ich setze mich nicht hin, aber ich stehe im Restaurant. Ich esse immer im Stehen. Mich von den Mitarbeitern bedienen zu lassen, das geht gar nicht – das finde ich unverschämt.
Die Küche dort oben ist winzig, misst gerade 22 Quadratmeter, man darf nicht braten. Ist das überhaupt noch Restaurantküche?
Selbst Kochen ist verboten, Du darfst nur bis zum Siedepunkt erwärmen. Das ist eine Herausforderung, aber ich liebe Herausforderungen. Ein Schnitzel braucht exakt drei Minuten 30 – zwei Minuten ist zu feucht, vier Minuten zu hart. Diese Konstanz bei 14 Stunden Service zu erreichen, ist schwierig, aber macht Spaß.
Merken die Gäste, dass sich das Restaurant dreht?
Das habe ich noch nicht gehört. Ich bin da der Schlimmste – ich traue mir nicht zu, da oben zu essen. Das wäre mir zu peinlich, wenn mir die Beine wegknicken würden. Und ich esse generell nicht in meinen Restaurants – das gehört sich nicht.
Was antworten Sie Berlinern, die sagen: Der Fernsehturm wird zur Touristenfalle?
Er war die Touristenfalle – deshalb hat man mich geholt. Der Berliner neigt zum Jammern, der Deutsche nörgelt an allem rum. Für mich bedeutet der Fernsehturm, gelassener mit Kritik umzugehen und zu überlegen: Was muss ich ändern, was ist Teil des Konzepts?
Sie sagen, Deutsche haben ein Problem mit ihrer kulinarischen Identität?
Wir gehen eher zum Chinesen oder Griechen, als Deutsch essen. In Berlin einen Metzger zu finden, der Wurst noch selbst macht – da musst du lange suchen. Wir haben ein Problem mit unserer Herkunft, mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs. Ich möchte Nationalstolz nicht den Rechten überlassen – wir können stolz sein auf unser demokratisches Land, wo alle Hautfarben, Religionen und Sexualitäten gleich sind.
Ihre Frau sagt, Sie seien 10 bis 15 Prozent zu viel für die Menschen.
Ich glaube, für die Küche ist das am wenigsten ein Problem. (lacht) Was sie damit meint, ist mein extremer Antrieb, zu leisten. Wer nicht leistet, gibt der Gesellschaft nichts wieder. Wenn ich mit jungen Menschen über die Vier-Tage-Woche spreche und diese Sechs-Stunden-Geschichte höre, sage ich immer: Wenn wir alle so arbeiten würden, würden unsere Sozialleistungen nicht mehr funktionieren. Unser Staat würde so nicht mehr funktionieren.
Wann ist das „Sphere“ in Ihren Augen ein Erfolg?
Wenn ich mit unserer Leistung zufrieden bin. Natürlich möchte ich, dass Berliner ihre Feste dort feiern, aber das schaffen wir nicht am ersten Tag. Es muss ein Ort sein, wo du sagst: Nirgendwo gibt es bessere Soljanka oder einen leckereren Broiler. Das Schönste wäre, wenn ich mich nicht mehr über Kritik ärgern muss, bei der ich weiß, ich hätte es besser machen können.