Klimakrise: So werden wir leben, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel verfehlen

Der Klimawandel wird immer bedrohlicher. Einzige Rettung: CO2 aus der Atmosphäre zurückholen. Das Leben in der „Overshoot“-Welt wird eine Herausforderung – für uns alle.

Die Sonne geht auf über Brandenburg. Große Teile sind nur noch Steppe. Im Jahr 2075 steht dort auf der ausgebrannten Erde ein Heer von Anlagen, die CO2 aus der Atmosphäre saugen. An Landwirtschaft ist hier schon lange nicht mehr zu denken. Im Süden Deutschlands gibt es dagegen noch Agrarbetriebe. Regelmäßig rollen riesige Elektro-LKW auf ihre Höfe und liefern gemahlenes Gestein, das anschließend auf die Felder ausgebracht wird und dort CO2 binden soll. Wo es geologisch möglich ist, wird CO2 im Boden verpresst und gespeichert – eine lukrative Einnahmequelle für Landbesitzer und Kommunen. In und um den Schwarzwald qualmen dagegen die Schlote: Hier hat sich eine große Pyrolyse-Industrie angesiedelt. In ihren Öfen produziert sie CO2-bindende Pflanzenkohle.

All das wirkt heute noch wie Science-Fiction. Doch es beschreibt ziemlich genau die Welt, in der wir möglicherweise bald schon leben werden: in einer CO2-Entnahmewelt. 

Wenn die Menschheit das Pariser 1,5-Grad-Ziel verfehlt – und genau das zeichnet sich derzeit ab – bleibt die Emissionsminderung zwar weiterhin die zentrale klimapolitische Aufgabe. Doch künftig wird zusätzlich eine CO2-Entnahme in gigantischem Ausmaß notwendig. Das hat weitreichende Konsequenzen: für die Politik, für die Gesellschaft, für die Klimaschutzbewegung – für uns alle. 

Das Klimaziel werden wir wohl schon in ein paar Jahren reißen

Neue Bündnisse sind nötig, alte Frontstellungen können wir uns vermutlich nicht mehr leisten. Umweltaktivisten zum Beispiel müssen in der Post-1,5-Grad-Welt mit der Öl- und Gasindustrie kooperieren, weil deren Fähigkeiten benötigt werden, um CO2 sicher und langfristig im Boden zu speichern. Es wird neue Konflikte geben, neue Gefahren. 

Und die Politik wird andere Erzählungen als heute brauchen, um die Menschen mitzunehmen auf dem Weg in eine neue Epoche. In eine Zeit, in der unser Planet unter dem von uns allen verursachten „Overshoot“ leidet – ein englisches Wort, am besten übersetzt mit dem Begriff: dauerhafte Überlastung.

 

Es wird immer unwahrscheinlicher, dass es noch gelingt, die Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen. Derzeit steuert die Menschheit sogar auf eine Erwärmung um rund 3 Grad bis zum Jahr 2100 zu – mit verheerenden ökologischen und sozialen Folgen. Wahrscheinlich ist, dass die 1,5-Grad-Schwelle schon Anfang der 2030er-Jahre gerissen wird.

In dieser Situation rückt das Overshoot-Konzept in den Vordergrund. Jene Idee, die darauf setzt, den Temperaturanstieg durch massive CO2-Entnahme in der zweiten Jahrhunderthälfte zu drosseln. Je stärker der Overshoot, desto größer der Bedarf an CO2-Entnahme. Overshoot ist aus heutiger Sicht wohl die einzige Möglichkeit, das Pariser Klimaziel doch noch zu erreichen.

Was ist CO2-Entnahme?

Wird durch unterschiedliche Verfahren mehr CO2 aus der Atmosphäre entnommen als ausgestoßen, entstehen sogenannte negative Emissionen. Die sind dringend nötig, um das Erdklima zu stabilisieren und die Temperatur wieder etwas zu senken. CO2 kann am einfachsten durch gesunde Wälder, Pflanzenkohle oder mehr Humus in Böden gespeichert werden. 

Komplizierter wird es bei technischen Prozessen wie der direkten Entnahme aus der Luft, von Fachleuten „Direct Air Capture“ (DAC) genannt. Weitere Möglichkeiten sind das Verbrennen oder Vergären von Biomasse mit anschließender Abscheidung und Speicherung des CO2. Es gibt noch andere Technologien. Allen ist eins gemeinsam: Es sind anspruchsvolle, komplexe und teure Verfahren.

Um es klar zu sagen: Das sind keine rosigen Aussichten. Eine Overshoot-Welt wird eine deutlich kaputtere sein als die heutige.

Klimaschutz in gewaltigen Dimensionen

Die Herausforderungen sind gewaltig: Um die globale Temperatur nur um 0,1 Grad zu senken, müssten etwa 220 Milliarden Tonnen CO2 entfernt werden – das Fünffache der heutigen weltweiten Jahresemissionen. Zur Einordnung: Durch weltweite Aufforstungsaktivitäten werden derzeit ungefähr zwei Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr entfernt. Diese Mengen machen klar, dass die CO2-Vermeidung oberste Priorität haben muss. Doch sie allein reicht nicht mehr. 

Was bedeutet das für den Klimaschutz und seine Akteure – Nichtregierungsorganisationen, Parteien, Umweltinitiativen, Unternehmen oder die Forschung? Was bedeutet es für uns alle? 

Neue, nie dagewesene Bündnisse zeichnen sich ab

Mit der 1,5-Grad-Schwelle im Rückspiegel verschieben sich die Paradigmen im Klimaschutz. Bislang lautete die Herausforderung: Emissionen reduzieren. In Zukunft könnte eine zweite, genauso wichtige dazukommen: CO2 aus der Atmosphäre zurückholen.

Es geht dann nicht mehr darum, etwas zu vermeiden – nämlich das Überschreiten der 1,5-Grad-Schwelle. Sondern darum, zurückzukehren. Der Aufbau einer globalen CO2-Entnahmeinfrastruktur wird damit zur zentralen Aufgabe. Dabei geraten Technologien in den Fokus, die bisher skeptisch betrachtet wurden – etwa die erwähnte Entnahme aus der Luft (DAC) oder die industrielle CO2-Speicherung. Schätzungen gehen davon aus, dass die globale DAC-Industrie etwa die Größe der heutigen Ölindustrie annehmen muss, um der Atmosphäre CO2 in einem signifikanten Ausmaß zu entnehmen.

Neue, nie dagewesene Bündnisse zeichnen sich ab, aber auch bisher nicht gekannte Konflikte. Klimaschützer werden sich für CO2-Entnahme-Farmen, Pyrolyse-Öfen und CO2-Speicher einsetzen, während Anwohnende, Teile der Politik und „klassische“ Industrie möglicherweise dagegen agitieren.

Wird der Schwarzwald zum Pflanzenkohle-Hotspot?

Damit der Schwarzwald zum Pflanzenkohle-Hotspot und Brandenburg zum Herz der CO2-Entnahmeindustrie in Deutschland werden, müssen enorme organisatorische sowie ökonomische Herausforderungen gestemmt werden. Ähnlich wie die Abfall- oder Abwasserentsorgung wird die CO2-Entnahme sich kaum selbst tragen können. 

Mittelfristig werden sich Klimaschützer dafür einsetzen müssen, dass Regierungen und private Geldgeber große Summen aufwenden, um CO2-Entnahme im industriellen Maßstab zu ermöglichen. Es wird dann ausgerechnet von jenen Vertrauen in Großtechnologien abverlangt, die derartigen Technologien in der Regel eher nicht vertrauen: von Umweltaktivisten und Ökobewegten. Sie werden mit ihren technologieskeptischen Traditionen brechen müssen – um den Planeten zu retten. 

Für die beschleunigte Verwitterung, einer Methode, bei der riesige Mengen feingemahlenes Gestein auf Felder ausgebracht werden, müssen Steinbrüche abgetragen werden und viele große LKW durch die Gegend fahren. Hier und bei anderen CO2-Entnahmemethoden ist es leicht, sich auszumalen, wie Interessen des Klimaschutzes mit denen des Umweltschutzes kollidieren. Erst recht, wenn die CO2-Entnahme irgendwann in industriellem Ausmaß geschehen muss.

Freunde und Gegner von einst müssen sich neu erfinden

Klar ist schon jetzt, dass der Aufbau einer funktionierenden CO2-Entnahmeinfrastruktur nur gelingen wird, wenn sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zusammenarbeiten: Klimaschützer und Ingenieurinnen, Landwirtinnen und Minenbetreiber, Städter und Bewohnerinnen ländlicher Gegenden, wo die meiste CO2-Entnahme stattfinden wird.

Klimaschutz in einer Overshoot-Welt erfordert also neue Denkweisen, ungewöhnliche Allianzen, politische genauso wie technische Kreativität. 

Es sollte heute alles dafür getan werden, damit der Overshoot möglichst gering bleibt. Aber wir werden diese Überlastung unserer Erde wohl nicht mehr ganz verhindern können. Die einzige Strategie, um das 1,5-Grad-Ziel dann noch weiter am Leben zu halten, lautet: Die Freunde und Gegner von einst – sie müssen sich neu erfinden.