Gefangen in der Tiefe: Dieser Mann wäre auf seiner Reise zum Wrack der Titanic fast ums Leben gekommen

Dr. Michael Guillen war der erste Journalist, der im Jahr 2000 zum Wrack der „Titanic“ reisen durfte. Dort angekommen, geriet sein U-Boot in eine starke Strömung.

Vor 40 Jahren wurde das Wrack der Titanic gefunden. Zu diesem Anlass veröffentlichen wir diesen Text aus dem stern-Archiv aus dem Jahr 2023 erneut.

Dr. Guillen, Sie sind im Rahmen der aktuellen Ereignisse am Wrack der „Titanic“ mit einem Tweet viral gegangen, in dem Sie erzählen, dass Sie eine Reise zum Grund des Meeres beinahe das Leben gekostet hätte. Wie kam es dazu?
Ich bin im September 2000 mit einem russischen U-Boot zur „Titanic“ getaucht. Das war zu dieser Zeit eine sehr seltene und einmalige Gelegenheit. Wissen Sie, damals waren mehr Menschen auf dem Mond als am Wrack dieses legendären Schiffes. Ich wurde eingeladen, um dort als erster Journalist überhaupt eine Reportage zu drehen – eine Chance, die man nutzen muss.

Das klingt, als hätten Sie gezögert.
So ist es auch. Ich bin Nichtschwimmer und habe große Angst vor dem Wasser. Was merkwürdig klingt, denn als Korrespondent habe ich jeden Winkel der Erde bereist und von Kriegen und ausbrechenden Vulkanen berichtet – aber das Wasser war mir nie geheuer.

Wie darf ich mir das U-Boot, mit dem Sie zur „Titanic“ gefahren sind, vorstellen?
Mit dem Tauchboot von Oceangate, das man aktuell in den Medien sieht, war das nicht vergleichbar. Unser U-Boot war wesentlich kleiner, wir hatten gerade so Platz für drei Menschen und mussten die ganze Zeit auf dünnen Matratzen liegen. Sitzen oder stehen konnte man nicht, es war extrem beengt. Aber es schien mir sicher, denn das U-Boot diente wissenschaftlichen Zwecken und war dementsprechend gut ausgerüstet. Nur Annehmlichkeiten, etwa eine Toilette, gab es nicht. Ein echtes Arbeitsgerät eben.

Das Wrack der „Titanic“ liegt in rund 3800 Metern Tiefe auf dem Grund des Atlantiks, hier ein 3D-Scan
© Atlantic / Magellan / AP

Wie lief die Reise ab?
Wir sind zunächst mit dem Mutterschiff von Nova Scotia zu der Stelle gefahren, an der die „Titanic“ gesunken ist. Dort haben wir am nächsten Morgen das U-Boot startklar gemacht, sind reingeklettert und dann per Kran zur Wasseroberfläche gehoben worden. Dann machte es kurz ‚Klick‘ und wir schwammen. Danach fährt man im Korkenziehermuster rund zweieinhalb Stunden in die Tiefe. Schneller und in einer geraden Linie geht das nicht, weil einen sonst die Strömungen vom Kurs abbringen – deswegen der Kreisel. Ich habe lange Zeit absolut nichts sehen können, bis dann irgendwann sowas wie große Knöpfe an meinem Fenster aufgetaucht sind. Das waren die Nieten der Schiffshülle. Unser russischer Kapitän sagte dann in seinem kernigen Akzent „Titanic“ – und wir waren da.

Wie hat sich das angefühlt?
Die Reise selbst war ein Wechselbad der Gefühle, ganz ehrlich. Ich habe schon am Abend vorher meinen Blick auf den Ozean geworfen und realisiert, was für ein Monster er ist. Und wie unendlich ruhelos. Wie gesagt: Wasser ist nicht mein Element. Die Reise zum Wrack war dann aber sehr ruhig, nachdem sich die Nervosität vom Einsteigen und Winken gelegt hatte. Dabei muss ich furchtbar ausgesehen haben, so richtig mit erzwungenem Lächeln, dem Untergang entgegen. Da ich aber einen klaren Auftrag hatte, bestand der erste Teil der Reise vor allem daraus, Material zu drehen und mir die Details einzuprägen. Je fokussierter ich arbeitete, desto weniger dachte ich an das, was um mich herum passierte. So habe ich immer funktioniert, anders geht das für mich nicht.

Und als Sie dann am Wrack angekommen sind?
Naja, zunächst mal war ich natürlich baff. Ich meine, ich hatte die legendäre „Titanic“ wenige Meter vor meinen Augen. Ich glaube, das Gefühl kann man solange nicht nachempfinden, wie man selbst nicht dort war. Ein unglaubliches, fast spirituelles Gefühl. Ich erinnere mich, dass wir kurz nach unserer Ankunft einen Moment der Ruhe hatten. Wir baten den Kapitän, die Maschine abzustellen und beteten für die vielen Menschen, die bei der Tragödie ums Leben gekommen sind. Das war extrem emotional – und ich bin schwer aus der Ruhe zu bringen, nach allem, was ich in meiner Karriere erleben durfte. Sehr surreal, da unten in der Tiefe. Ich werde das nie vergessen. Danach sind wir das Schiff quasi abgefahren. Erst haben wir den Bug mit seinen riesigen Nieten inspiziert und dann die ganzen Gedenktafeln gesehen, die zahlreiche Expeditionen in der Nähe des Steuerhauses hinterlassen haben. Absolut unglaublich.

Angst hatten Sie nicht?
Nein, dafür war ich zu fokussiert. Das waren so viele Eindrücke. Wir sind dann vom Bug zum umgedrehten Heck gefahren. Wissen Sie, als die „Titanic“ sank, brach sie in zwei Teile. Während der Bug relativ gerade am Meeresboden angekommen ist, hat sich das Heck gedreht. Man kann also die massive Schraube sehr gut sehen. Ein absoluter Eyecatcher, denn sie ist zum Teil aus Messing und glänzt stellenweise wie neu. Der Rest der „Titanic“ ist grau und dunkel, aber diese Schraube, wenn man sie anleuchtet, reflektiert ganz fantastisch. Zu meiner Verwunderung hielt unser U-Boot dann aber nicht an, damit wir filmen konnten, sondern beschleunigte.

Warum?
Das haben wir den Kapitän auch gefragt, aber er versicherte, nicht dafür verantwortlich zu sein. Im Gegenteil: Unser U-Boot war in eine sehr starke Strömung geraten. Sie müssen wissen, dass Strömungen in dieser Tiefe extreme Kräfte entfalten und absolut gefährlich sind, wenn man versehentlich erwischt wird. Und so gerieten wir hinter die Propeller der Schraube und Stücke der „Titanic“ fielen auf uns. Damit begann unsere Krise.

Was tut man in so einem Moment?
Mein erster Instinkt war, dass ich nicht wollte, dass jemand anderes im U-Boot in Panik gerät. Ich war also bereit, jeden anzugreifen, der zur Luke ging, um zu versuchen, sie zu öffnen. Denn mir wurde gesagt, dass das passiert, wenn Leute in Panik geraten. 

Lässt sich eine Luke in dieser Tiefe überhaupt öffnen?
Interessante Frage, auf die ich in diesem Moment keine Antwort hatte. Ich weiß es bis heute nicht, wollte es aber auf gar keinen Fall rausfinden. So naheliegend der Gedanke an Flucht in einem solchen Moment auch sein mag, es wäre für uns alle das sichere Ende gewesen. Aber nicht jeder Mensch ist in Extremsituationen in der Lage, klar zu denken.

Dr. Michael Guillen ist Wissenschaftler, Journalist und Autor. Lange Zeit arbeitete er als Wissenschaftsredakteur von ABC News. Heute verfasst der 63-Jährige vor allem Bücher und hält Vorträge. Mehr Informationen gibt es auf seiner Homepage.
© Dr. Michael Guillen

Was geschah dann?
Ich habe mir gedacht: Wir haben eindeutig ein Problem. Und suchte nach einer Lösung. Erstmal habe ich mich gefragt: Wie viel Sauerstoff haben wir? Wie lange reicht das? Dann habe ich mich gefragt: Gibt es irgendwas, was man tun kann? Und sehr schnell nach diesem offenbar sehr rationalen Teil wurde mir klar: Nein, es gibt keine Möglichkeit der Rettung. Es gibt einfach keine praktische Möglichkeit. Ein U-Boot so weit unten zu retten, die Rückreise zu ermöglichen, die über zwei Stunden dauert, die Geräte, die man dafür benötigt – all das schien mir unlösbar. Panisch wurde ich nicht, aber ich erinnere mich noch heute sehr gut daran, wie unendlich traurig ich plötzlich war. Darüber zu sprechen schmerzt auch 20 Jahre später.

Das war das Gefühl einer großen Traurigkeit, fast so niederschmetternd wie der Druck des Ozeans. Ich fühlte nur Traurigkeit. Keine Panik, nein. Traurigkeit, große Traurigkeit. Ich dachte an meine Frau und sagte zu mir selbst: ‚So wird es für dich enden‘. Ich dachte an all die Dinge, die ich erlebt hatte: Nordpol, Südpol, Kriegsgebiete, Vulkane. Ich war an so vielen Orten, an denen ich mich in Gefahr begab und jedes Mal hatte ich es geschafft, zu überleben. Aber das hier war es für mich. Und dann hatte ich das Gefühl, mich all den Menschen anzuschließen, die hier unten gestorben sind. Ich war mir darüber im Klaren, mich jetzt zu ihnen zu gesellen und ein Geist der „Titanic“ zu werden. Das war der Moment, in dem ich diese große Traurigkeit empfand.

Sie waren also nicht panisch?
Wozu denn Angst und Panik? Die Situation war dermaßen ausweglos, dass es für mich absolut keinen Sinn gemacht hat, panisch zu werden. Panik hat man, wenn man die Hoffnung hat, dass man sich selbst aus einer Situation befreien kann. Die hatte ich nicht. Aber etwas anderes geschah. Als hätte man einen Schalter umgelegt, wurde das ganze U-Boot sehr ruhig. Niemand sprach. Vielleicht hatte ich meine Situation akzeptiert? Ein noch heute unerklärlicher Gefühlswechsel. Und es tut so weh, darüber zu sprechen.

Warum machen Sie das dann?
Ich möchte, dass die Menschen verstehen, dass diese Situation sehr ernst ist – und es gibt eben nicht viele, die ein solches Unglück überlebt haben. Heute nennt man eine Fahrt zur „Titanic“ Tourismus. Das impliziert aber, dass es sich um eine spaßige Sache handelt, die man unbedingt mal erlebt haben muss. Das ist es aber nicht. Und es ist mir wichtig, das so zu sagen. Der Ozean verzeiht keine Fehler. Er hat kein Mitleid. Wenn da auch nur für einen Sekundenbruchteil etwas schiefgeht, dann bist du geliefert. Man muss davor Respekt haben. Man darf es nicht als Freizeitspaß abtun, sich diesen Gewalten auszuliefern. Besonders im Zusammenhang mit der „Titanic“ ist das respektlos.

Infoblatt zum Tauchboot „Titan“: In diesem Unterwasserfahrzeug sind die Touristen unterwegs
© Oceangate / ABACA / stern Infografik / rös

Wie meinen Sie das?
Ich kann – und auch nur zu einem Bruchteil – nachfühlen, was diese armen Menschen, die dort ihr Leben gelassen haben, durchgemacht haben müssen. Umgeben von eiskalten Wellen, von niemals endenden Wellen. 360 Grad absolutes Nichts – das ist kein Ort, an dem man sich aufhalten sollte.

Sind Sie der Meinung, dass Reisen zur „Titanic“ oder zu einem anderen Wrack keine gute Idee für den Tourismus sind?
Ich habe gemischte Gefühle, denn für mich ist dies nicht nur ein Wrack. Es ist heiliger Boden, und das merkt man erst, wenn man dort unten ist. Es ist fast so, als ob man die Gegenwart spürt. Ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll, aber man spürt die Anwesenheit der Menschen, die dort unten gestorben sind. Und sehr schnell wird einem klar, dass dies keine Sightseeing-Tour ist. Hier geht es nicht nur darum, etwas Interessantes zu sehen. Mir gefällt also der Gedanke nicht, eine solche Reise zu buchen, nur um sagen zu können, dass man dort war. Ich empfinde es als respektlos. Es ist respektlos gegenüber den Menschen, die ihr Leben verloren haben. Es ist respektlos gegenüber Mutter Natur.

Es ist eine Tragödie, dass diese fünf Menschen aktuell vermisst werden. Das möchte ich auf gar keinen Fall klein reden. Es ist schrecklich. Aber als Antwort auf die allgemeine Frage, ob man zur „Titanic“ reisen sollen: Ich habe Bedenken, es wie eine Touristenattraktion zu behandeln, ja.

Wie sind Sie eigentlich freigekommen?
Es war in dem erwähnten Moment der Stille, als wir merkten, dass es unserem Kapitän Viktor gelungen war, das U-Boot zu befreien. Es bewegte sich wieder und wir konnten auftauchen. Für mich war das wie ein Lottogewinn, auch wenn ich die letzten zweieinhalb Stunden nur noch gebetet habe, dass nicht noch etwas schiefgeht.

Sie feiern also zwei Geburtstage?
Die Idee ist nicht schlecht, aber nein, tue ich nicht. Eigentlich möchte ich diesen schrecklichen Moment einfach vergessen. Es ist unglaublich schmerzvoll, sich bewusst zu werden, dass das Leben in absehbarer Zeit endet.