Überraschende Vaterschaft: „Für mich war klar: Das mit dem Kinderkriegen konnte ich vergessen“

Ein Mann erkrankt an Hodenkrebs und wird operiert. Er sei unfruchtbar, heißt es. Später wird er Vater von zwei Kindern – auf natürlichem Weg. Protokoll eines kleinen Wunders. 

Mit fast 30 – es war in den 1990er Jahren – war ich bei einem Urologen in Behandlung. Es gab den Verdacht auf eine Infektion, und er schlug vor, mal ein Spermiogramm machen zu lassen, also zu untersuchen, wie viele Spermien im Samenerguss sind. Das Ergebnis war überraschend: „Oh, das sieht schlecht aus“, sagte der Arzt, „bei Ihren Spermien ist nicht viel los.“ Genauer: Man hatte überhaupt kaum welche gefunden. Aber vielleicht sei das vorübergehend, wegen der Infektion, hieß es. Ich solle demnächst mal wieder zur Kontrolle kommen. 

Zu der Zeit steckte ich in meinem Studium in Abschlussarbeiten und Examensvorbereitungen. Lerngruppe, langes Büffeln, aufwendige Hausarbeiten – die Wochen und Monate verflogen. Etwa ein Jahr nach dem Besuch beim Arzt hatte ich ein bisschen Luft und dachte: Ach, das mit den Spermien lässt du jetzt nochmal kontrollieren. Das Thema Familie und Kinderkriegen war mir prinzipiell wichtig, ich wollte wissen, wie nun der Stand war. 

Der Befund erschreckte mich: wieder so gut wie keine Spermien – nichts drin im Ejakulat. Laut Urologe konnte das alle möglichen Ursachen haben. Wenn es mich genauer interessiere, würde er mich an einen auf künstliche Befruchtung spezialisierten Urologen überweisen, vielleicht könne der mir weiterhelfen. Zum Glück bekam ich bei dem schon eine Woche später einen Termin.

Dann kam der Tag, den ich nie vergessen werde: ein Donnerstag im Spätsommer. Als ich mich bei dem Spezialisten vorstellte und meine Geschichte erzählte, fragte er mich, ob der Kollege denn keinen Ultraschall gemacht habe. Nein, hatte er nicht. Der Arzt fragte nach meiner ganzen Krankengeschichte. Ich erzählte ihm, dass ich als Kind auf beiden Seiten einen sogenannten Hodenhochstand gehabt hatte: Normalerweise wandern bei einem männlichen Embryo die Hoden im Verlauf der Schwangerschaft aus dem Bauchraum über den Leistenkanal in den Hodensack. 

Manchmal klappt das aber auch nicht – so wie bei mir.  Meine Hoden wanderten nach Leistenbrüchen, die bei Kindern nicht selten sind, immer wieder durch den Leistenkanal. Im Alter von drei Jahren war ich deswegen auf der einen Seite operiert worden; später, im Alter von neun Jahren, auf derselben Seite nochmal, sowie auf der anderen Seite. 

„Vor der OP konnte ich keine Spermien einfrieren lassen“

„Oh“, sagte der Spezialist, nachdem ich ihm davon erzählt hatte, „mit so einem früheren Hodenhochstand hat man eine 45-fach höhere Wahrscheinlichkeit, an Hodenkrebs zu erkranken.“ Der Arzt machte also eine Ultraschall-Untersuchung. Ihm fiel buchstäblich die Kinnlade herunter. „Die eine Seite ist nur noch ein einziges Tumorgewebe“, sagte er. „Das muss sehr schnell behandelt werden.“ 

Ging nicht. Ich hatte ja Uni-Prüfungen. „Nichts da“, sagte der Arzt resolut. „Wir brauchen so schnell wie möglich einen OP-Termin für Sie. Wenn Sie wollen, können Sie vorher noch Spermien einfrieren lassen.“ Was für Spermien? Ich hatte doch kaum welche.

Danach ging alles ganz schnell. Ich bekam für den folgenden Montag, also vier Tage später, einen Termin im Krankenhaus zur stationären Aufnahme, am Tag darauf sollte die Not-OP stattfinden. 

Als ich die Praxis des Spezialisten verließ, war ich wie in Trance. Hodenkrebs! Ich sah mich aus der Zuschauerperspektive von der Seite, um mich herum all die anderen Menschen an der S-Bahn-Station. Ich dachte: „Ihr alle hier, ihr lebt weiter. Für mich ist aber Schluss.“ Ich fühlte mich nicht mehr als Teil des normalen Lebens. Die Selbstverständlichkeit zu leben war verloren gegangen. 

In der Klinik wurde dann klar: Es war ein sogenanntes Seminom, ein vergleichsweise nicht ganz so bösartiger Tumor. Überlebenswahrscheinlichkeit damals: 91 Prozent. Das beruhigte mich. Ich verdrängte, dass ich auch zu den neun anderen Prozent der Männer gehören konnte.

Bei der OP wurde der erkrankte Hoden entfernt – Fachbegriff: Semikastration – plus Lymphknoten im Bauchraum, die aber leider auch befallen waren, was die Heilungschancen wieder verschlechterte. Nach ein paar Komplikationen bei der Wundheilung hatte ich es schließlich überstanden. Danach bekam ich noch zweimal eine Gabe Chemotherapie, um einzelne Krebszellen, die im Lymphsystem hätten wandern können, zu erwischen. Beim ersten Mal musste ich die ganze Nacht lang kotzen. Beim zweiten Mal ging es besser. Kein Haarausfall, kein Durchfall. Dann kam die Reha. 

„Ich hatte mir so sehr Kinder gewünscht“

Bei einer Kontrolluntersuchung einige Zeit später nichts Neues: kaum Spermien. Ich hatte nicht nur Krebs gehabt, ich war unfruchtbar. Mir war klar: Das mit dem Kinderkriegen konnte ich vergessen. Ich war ziemlich niedergeschlagen. Auch als gläubiger Christ hatte ich mir so sehr Kinder gewünscht. In den Jahren danach hatte ich ein paar verschiedene Beziehungen. Verhütung beim Sex war nicht nötig – ich war ja unfruchtbar. Dachte ich. 

Bis ich eine sehr charismatische Frau kennenlernte. Sie hatte bereits ein Kind, war alleinerziehend. Wir führten einige Zeit eine Fernbeziehung. Eines Tages bekam ich eine Nachricht von ihr: „Ich bin schwanger.“ Ich war total perplex. Aber es war klar, dass das Kind von mir war. Ein paar Wochen später habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht, mit allem, was dazugehört. 

Schließlich wurde unsere Tochter geboren, sie ist inzwischen ein Teenager. Wenn meine Frau und ich Sex hatten, verhüteten wir fortan – wir wussten ja nun, dass ich doch nicht unfruchtbar war. 

Nach drei Jahren hatten meine Frau und ich das Gefühl: Es liegt etwas in der Luft, da möchte noch jemand zu uns in die Familie kommen. Das mag ein wenig seltsam klingen, aber so haben wir es damals empfunden. Wir ließen die Verhütung weg. Ein Versuch – und meine Frau war wieder schwanger. Wir bekamen schließlich unsere zweite Tochter.

Aufgrund meiner Geschichte und meines christlichen Hintergrunds sehe ich diese Kinder als Gottesgeschenke. 

Später habe ich mich mal mit einem Urologen über meine Geschichte unterhalten, und der sagte: „Ja, so was wie bei Ihnen gibt es immer wieder mal. Das eine ist die Lehrbuchmeinung, das andere ist das echte Leben.“ 

*Das Protokoll wurde auf Wunsch anonymisiert.