„Stadtbild“-Kontroverse: Wie der Kanzler dem linken Lager neues Leben einhaucht

Friedrich Merz hat mit seiner umstrittenen „Stadtbild“-Aussage das linke Lager reaktiviert, auch der Koalitionspartner SPD ist vernehmbar irritiert. Ganz nach AfD-Drehbuch?
Der Kanzler sorgt für Kopfschütteln beim Koalitionspartner, wieder einmal. Friedrich Merz, der im Zusammenhang mit der Migrationspolitik von einem nach wie vor bestehendem „Problem“ im „Stadtbild“ gesprochen hatte, weckt gar schlimmste Befürchtungen einiger Sozialdemokraten – und lässt bei ihnen die Alarmglocken schrillen.
„Diese schwammige Sprache ist gefährlich, weil sie Raum für Ressentiments öffnet – und damit die AfD und ihre Ideologie beflügelt“, sagte Adis Ahmetovic dem stern. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag und Vorsitzende der SPD Hannover fordert den Kanzler zu Klarheit in der von ihm angestoßenen „Stadtbild“-Debatte auf.
Merz hat gegenüber seinem Juniorpartner in der schwarz-roten Koalition gewissermaßen mit einer Hand wieder eingerissen, was er mit der anderen aufgebaut hatte. Denn trotz seiner klaren Ansage gegen die AfD führte er dem latenten Misstrauen der Sozialdemokraten, wie stabil die CDU steht, neuen Sauerstoff zu. Und der Opposition von Grünen und Linken sowieso.
Mobilisiert das linke Parteienspektrum nun gegen den Kanzler und seine Union? Und wäre das nicht ganz nach dem Geschmack derer, die man eigentlich bekämpfen will: die AfD?
„Was genau ist das Problem, von dem Friedrich Merz spricht?“
Angesichts stetig steigender Umfragewerte für die AfD, hatten die Präsidiumsmitglieder der CDU auf einer Strategiesitzung im Berliner Grunewald über den richtigen Umgang mit den Rechtspopulisten im Superwahljahr 2026 beraten.
Der Versuch, den Ort der Klausurtagung geheim zu halten, ist ebenso gescheitert wie das Bemühen, interne Diskussionen über Wege jenseits der „Brandmauer„ kleinzureden. Namhafte Unionsvertreter hatten im stern für einen Kurswechsel geworben und eine hitzige Debatte in der Union angestoßen.
Obwohl sich „gar nichts“ am Umgang seiner CDU mit der AfD geändert habe, wie Friedrich Merz behauptet, hat er am Montag doch recht viel Zeit darauf verwendet. Erklärt, was „unsere Haltung“ ist. Bekräftigt, dass es keine Zusammenarbeit mit den Rechtspopulisten geben werde. Und festgehalten: „Es trennen uns nicht nur Details“.
Die Standortbestimmung, die Merz am Montagmorgen nach einer Strategiesitzung des CDU-Präsidiums vorgenommen hat, unzweideutig in der Ansage und teilweise gereizt im Ton, hat er offenbar für notwendig erachtet. Gegenüber der eigenen Partei, die nun auf Linie gebracht ist. Aber auch gegenüber dem Koalitionspartner SPD, die Zweifel hatte, wie es die Kanzlerpartei mit den extremen Rechten hält.
Doch damit ist die Diskussion nicht beendet, Merz hat das selbst verschuldet. Denn nun schwelt die Debatte um seinen umstrittenen „Stadtbild“-Satz durch die Koalition und durch die Medien. Auch am Montag, nach der CDU-Strategiesitzung, wollte Merz nicht davon abweichen.
„Ich habe gar nichts zurückzunehmen – im Gegenteil“, polterte der Kanzler. Merz blieb dabei wiederholt vage, was in seinen Augen konkret das „Problem“ sei. „Fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte“, antwortete der Kanzler auf die Frage eines Journalisten. Er vermute eine ziemlich klare und ordentliche Antwort.
Insbesondere im linken Lager ist der Ärger groß. Die Spitzen von Grünen und Linkspartei kritisierten Merz‘ Aussagen als „verletzend, diskriminierend und unanständig“ (Grünen-Co-Fraktionschefin Katharina Dröge) und „rassistischen Ausfall“ (Linke-Co-Chef Jan van Aken).
Auch in der SPD schüttelt man den Kopf. Carsten Schneider, Bundesumweltminister und damit Mitglied in Merz‘ eigenem Kabinett, kommentierte dazu auf „X“: „Als Vater von zwei Töchtern kann ich sagen: Hier sieht man das Problem in unserem Stadtbild.“ Schneider teilte dazu ein Bild, das offenbar Neonazis zeigt.
„Was genau ist das Problem, von dem Friedrich Merz spricht?“, fragt der SPD-Abgeordnete Adis Ahmetovic. „Angesichts früherer Aussagen von ihm habe ich eine Vermutung.“ Schließlich war es Friedrich Merz, der nach dem Ampel-Aus eine Mehrheit im Bundestag durch Inkaufnahme von AfD-Stimmen erzielte. Oder von „kleinen Paschas“ redete und Migranten, die den deutschen Bürgern die Zahnarzttermine wegschnappen würden. Seinerzeit war Merz noch Oppositionsführer.
„Als Kanzler spricht er auch für die Koalition“, klagt Ahmetovic. „Ich will das als SPD-Abgeordneter, zumal als Großstadt-Kind, nicht einfach so stehen lassen.“ Der Vorsitzende der SPD Hannover fordert, dass sich die Koalition auf ein gemeinsames Stadtbild durch einen Parlamentsbeschluss verständigen sollte, um die Debatte zu rationalisieren: Wie könne man Leerstand beseitigen, für mehr Erlebnis und Kultur sowie Sicherheit und Sauberkeit sorgen? „Ob der Kanzler dafür ins Kanzleramt einlädt, das Thema im Koalitionsausschuss bespricht oder wir eine Arbeitsgruppe einrichten: Hauptsache, wir klären das“, sagt Ahmetovic.
Latentes Misstrauen in der SPD
Der schwelende Streit um den „Stadtbild“-Satz zeigt auch: Merz hat das linke Parteienspektrum, von Grünen über Linkspartei bis SPD, geradezu reaktiviert, ihm neues Leben eingehaucht – oder zumindest reichlich Angriffsfläche geboten, um das eigene Profil zu schärfen. Tim Klüssendorf, der SPD-Generalsekretär, bezeichnete Merz‘ „Stadtbild“-Aussagen am Montagabend im ntv-Talk von Pinar Atalay jedenfalls als „schwer erträglich“. Am Morgen hatte er nach den SPD-Gremiensitzungen nochmal klargestellt, dass die AfD „niemals“ ein Partner für Zusammenarbeit von demokratischen Parteien sein könne.
Doch nur dagegenhalten ist noch keine Strategie, das ist auch den Sozialdemokraten bewusst. Generalsekretär Klüssendorf mahnte zu guter Regierungsarbeit. Im Bund steht die AfD derzeit zwischen 25 bis 27 Umfrageprozent, liegt damit zum Teil knapp vor der CDU und ist doppelt so stark wie die SPD. Und kommendes Jahr stehen fünf Landtagswahlen an. Ausweislich der Umfragen könnte die regierende CDU in Sachsen-Anhalt das Nachsehen gegen die AfD haben, die SPD in Mecklenburg-Vorpommern.
Die Nervosität wächst – zur Freude der AfD, die ausweislich eines Strategiepapiers „Schwarz-Rot spalten„ will, um an die Macht zu kommen. Durch die neuerliche „Brandmauer“-Debatte und dem „Stadtbild“-Satz wurde dem latenten Misstrauen der SPD gegenüber der Standhaftigkeit ihres Koalitionspartners neuer Sauerstoff zugeführt.
„Ich möchte Friedrich Merz glauben, wenn er als Bundeskanzler und als CDU-Vorsitzender sagt, dass er das auch so sieht“, sagte Klüssendorf zur Aussage des Kanzlers, dass er eine Kooperation der Union mit der AfD auf jeder Ebene ausschließe. Da schwingen durchaus Restzweifel mit.
Man werde den Kanzler daran messen, fügte Klüssendorf hinzu, dass er seine Haltung in den Reihen der Union als Parteivorsitzender auch unmissverständlich durchsetze. Zuvor hatte auch Co-Parteichef Lars Klingbeil die Union vor einem Ende der „Brandmauer“ gewarnt und darauf verwiesen, dass diese Festlegung „eine Eintrittsbedingung“ für die SPD in die Bundesregierung gewesen sei.
Auch inhaltlich macht die schwarz-rote Koalition derzeit vor allem durch Konflikt- statt Konsensthemen von sich Reden, vom Wehrdienst über das Verbrenner-Aus ab 2035 bis zur Rentenpolitik. „Die Regierung muss Probleme lösen“, sagte Merz. „Die Regierung darf nicht den Eindruck erwecken, dass sie zerstritten ist.“ Sie sei es nicht. Mit seiner „Stadtbild“-Aussage hat er das Gegenteil erreicht.