Meinung: Wadephuls Syrien-Deutschland-Vergleich: Wie kaputt sind wir eigentlich?

Die Union will Menschen aus Syrien zum Trümmer-Dienst abschieben. CDU-Minister Wadephul hält dagegen – und bemüht einen schiefen Vergleich. Die Fakten bleiben auf der Strecke.
Wer ist kaputter: die heute – oder wir damals?
Auf diesem Niveau läuft der deutsche Syrien-Diskurs inzwischen also. Jedenfalls in der Merz-CDU, deren Chef und aktueller Kanzler sich vor langer Zeit das Schlagwort von der Leitkultur auf die Fahnen geschrieben hatte. Der kultivierte Umgang aber scheint der Partei nun sogar intern abhandengekommen zu sein. Weil einer aus den eigenen Reihen hinter verschlossenen Türen den Parteifreunden unbequeme Wahrheiten aufgetischt hat.
Die Zerstörung in Syrien, so soll Außenminister Johann Wadephul, am Montagabend in einer internen Aussprache in der Unionsfraktion berichtet haben, sei schlimmer als in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Und weiter: „Es muss in einem Fraktionssaal, in dem ein Kreuz hängt, möglich sein, das zu benennen.“
Als Einladung zu etwas mehr Nachdenklichkeit war das wohl gedacht. Doch für den Außenminister ist es nach hinten losgegangen.
Statt Verständnis erntet Wadephul Häme und Rücktrittsforderungen der eigenen Leute. Fraktionschef Jens Spahn wirft ihm vor, mit seinen Äußerungen das Erscheinungsbild der Koalition zu beschädigen. Dabei hatte Spahn selbst den Trümmer-Vergleich als erster bemüht, als er im Vorfeld der Fraktions-Aussprache listig erklärte: „Stellen Sie sich vor, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in den Trümmern: Wenn die Großväter und Großmütter unser Land nicht wieder aufgebaut hätten? Wie sähe es heute aus? Ich halte es für eine patriotische Pflicht, dass man seine Heimat wieder aufbaut, dass man dort mithilft. Und das gilt auch für die syrischen Flüchtlinge hier im Land. Natürlich sollen sie zu Hause mithelfen.“
Wer in der Sache recht hat, scheint in einer angesichts dürftiger eigener Bilanz immer hysterischer regierenden Union kaum noch interessieren. Dabei lohnte der genaue Blick auf das Land, über das sich nun alle das Maul zerreißen.
Syrien ist bis heute ein Territorium ohne stabile Regierung, belegt mit internationalen Sanktionen, die selbst normalen Bankenverkehr fast unmöglich machen. Von großangelegtem Wiederaufbau ganz zu schweigen.
Im März massakrierten in Syriens westlicher Küstenregion sunnitische Milizen Hunderte Zivilisten aus der Ethnie des gestürzten Assad-Clans. Im Juli starben im Süden des Landes Hunderte Zivilisten bei Kämpfen zwischen Beduinen-Stämmen und Milizen aus der Ethnie der Drusen.
Die nordöstliche Hälfte des Staatsgebiets kontrollieren vom Westen unterstützte kurdische Einheiten, die keine Anstalten machen, einen Ausgleich mit der Zentralregierung in Damaskus zu suchen. Immer größere Landstriche im Südwesten geraten derweil unter Kontrolle israelischer Bodentruppen. Seit dem Sturz des Assad-Regimes hat Israel fast 1000 Mal syrisches Staatsgebiet aus der Luft oder mit Artillerie-Schlägen unter Feuer genommen.
Es wäre ein Deutschland ohne Marshall-Plan – dafür mit Resten von marodierenden Hitler-Truppen
Wollte man diese Zustände auf das Trümmer-Deutschland der späten 1940er Jahre übertragen, man müsste sich ein zwar ähnlich zerstörtes Land vorstellen – aber eben eines ohne Marshall-Plan, Lebensmittelmarken und Verwaltung durch disziplinierte Alliierten-Truppen. Dafür mit marodierenden Rest-Verbänden der Hitler-Soldateska in abgelegenen Gebieten der Mittelgebirge und Voralpen, mit rachsüchtigen Besatzer-Milizen und nahezu täglicher neuer Waffengewalt.
Nun würden manche Wadephul-Kritiker vielleicht einwenden, Assads Fassbomben und Putins syrische Mini-Luftwaffe seien an Zerstörungskraft den Flächenbombardements der Alliierten weit unterlegen gewesen. Was sicher zutrifft. Es ließe aber außer Acht, dass die Zerstörung Syriens von der eigenen Regierung ausging. Und dass die 13 Jahre dafür hatte. In dieser Zeit wurden Städte, Dörfer und Wohnviertel all derjenigen Landsleute, die Assad als Feinde betrachtete, nicht nur bombardiert. Nachdem die ursprünglichen Bewohner ausgehungert und vertrieben waren, führten die siegreichen Milizen die Ruinen, über die sie herrschten, weiterer Verwertung zu. Indem sie sie in jahrelanger Arbeit weiter zerkleinerten, um auch noch den letzten Stahlträger zu Geld zu machen. Vielerorts verscharrten sie anschließend die Gebeine ihrer Opfer unter dem Schutt. Dort liegen sie bis heute.
An eine Aufarbeitung von Assads Verbrechen ist bisher nicht zu denken, kein Nürnberger Prozess in Sicht, der ein Stück Hoffnung auf Gerechtigkeit oder gar Entschädigung keimen ließe für all die Opfer-Angehörigen aus Aleppo, Daraa oder Homs. Weil Russland, Iran und andere Staaten hohen Regime-Leuten Schutz gewähren. Aber auch, weil die Übergangsregierung in Damaskus mit dem Aufbau einer funktionierenden Justiz heillos überfordert ist. Derweil sitzen in Deutschland hochqualifizierte syrische Juristen auf Magazinen voller Beweismittel. Gern würden sie helfen, ein neues Gerichtssystem für Syrien ins Werk zu setzen. Doch dafür müssten sie: hinfahren. Das tut nicht, wer Sorge haben muss, mit einer Reise nach Aleppo oder Damaskus seinen Aufenthaltsstatus in Deutschland aufs Spiel zu setzen. So aber will es der Bundesinnenminister von der CSU.
Die Folgen von Assad prägen Syrien bis heute
„Al-Assad oder wir zünden das Land an“: Das war die Strategie des syrischen Regimes – im eigenen Land. Die Folgen prägen den Alltag in Syrien bis heute. Und sie machen den Neubeginn dort sehr viel schwieriger und unwägbarer als im zerstörten Nachkriegsdeutschland, dessen gestürztes Regime die verbrannte Erde nicht in der Heimat, sondern in der Fremde hinterließ.
All das kann man wissen, ohne nach Syrien zu reisen. Erst vor Ort aber wird das Ausmaß des Horrors deutlich, der fortdauert, auch wenn das Assad-Regime Geschichte ist. Und der Damaszener Außenbezirk Harasta, an dem sich Deutschlands Außenminister vergangene Woche selbst ein Bild verschafft hat, ist bei weitem nicht der schlimmste Ground Zero des neuen Syriens.
Wer sinnvoll darüber nachdenken will, wie eine bessere Zukunft für Syrien zu gestalten ist – auch für viele der Syrer, die in Deutschland Schutz gefunden haben – kommt um die Fakten nicht herum. Die Trümmer mögen einander gleichen. Die Geschichten tun es nicht.
Dass das unterm Kruzifix im Fraktionssaal der Union offenbar wird, zeigt vor allem eines: wie kaputt diese Berliner Debatte ist.




