Großbaustelle im Wattenmeer: Windstrom durchs Watt leiten: Wie wird Norderney unterbohrt?

Um Strom von Nordsee-Windparks an Land zu leiten, werden lange Leitungen durchs Meer gelegt – und sogar Inseln unterquert. Ein Besuch auf einer Watt- und Inselbaustelle zeigt, wie das geht.
Mitten auf Norderney, unweit des Leuchtturms, liegt eine der wohl außergewöhnlichsten Großbaustellen Niedersachsens – und zwar sowohl auf der Insel als auch im Watt davor. Um Windstrom von der Nordsee an Land zu bringen, arbeiten Dutzende Arbeiter im Auftrag des Netzbetreibers Amprion in den Sommermonaten daran, große Stromkabel unter der Insel zu verlegen. Aber wie lässt sich eine Nordseeinsel unterbohren?
Wofür werden die Stromkabel überhaupt benötigt?
Weil die Windenergie auf See künftig eine größere Rolle bei der Energiewende spielen soll. Dazu sind viele Seekabel notwendig, die den Strom an Land transportieren. Ein Großteil dieser Netzanbindungssysteme wird in der Nordsee über Niedersachsen und damit durch den Nationalpark Wattenmeer geführt.
Was macht die Baustelle auf Norderney besonders?
Das liegt an der Insellage. Gebaut werden darf nur in einem schmalen Zeitfenster nach dem Brutvogelschutz und bis zum Beginn der Sturmflutsaison im Herbst – genau in diesem Zeitraum herrscht auf der Urlaubsinsel aber auch Hochbetrieb im Tourismus. Und dann sind da noch die Gezeiten Ebbe und Flut, die für einen Großteil der Arbeiten den Takt vorgeben.
Wie genau werden Inseln unterquert?
Auf Norderney wird von der Inselmitte aus in zwei Abschnitten gebohrt: einmal Richtung Süden zum Watt und einmal Richtung Norden zur Seeseite. Es gibt also drei Baustellen, wo die Bohrungen ein- und austreten: an der Inselmitte, im Watt und an der Seeseite.
Wozu werden rote Rohre benötigt?
In den Rohren mit 40 Zentimeter Durchmesser verlaufen später die Stromkabel. Dazu wird ein sogenanntes Horizontalspülbohrverfahren eingesetzt. Mit einem Bohrgestänge werde zuerst eine Pilotbohrung gebohrt, sagt Amprion-Projektleiter Henning Gründemann. Mit einer zweiten Bohrung werde der Bohrkanal geweitet. Danach werden dann zwei je 540 Meter lange Rohrstränge eingezogen. Eine Bohrung samt Rohreinzug dauert etwa eine Woche.
Wie laufen die Bohrungen ab?
Gebohrt werde mit einer Spülung aus einem Gemisch aus Tonmehl (Bentonit) und Wasser, erklärt Gründemann. Die Bohrspülung werde durch das Gestänge bis zum Bohrkopf gepumpt. „Vorne an der Düse des Bohrkopfes tritt es aus, und der Boden wird abgebaut.“ Das Tonmehl-Wasser-Gemisch helfe, den insgesamt über einen Kilometer langen Bohrkanal zu stabilisieren. Komme die Spülung zum Stillstand, quelle sie auf wie Wackelpudding. „Das führt dazu, dass der Bohrkanal stabil bleibt, auch über Tage hinweg“, erklärt der Ingenieur.
Anschließend werden Abraum und Bohrspülung in einer Anlage durch Siebe getrennt. „Größtenteils ist das Sand, was wir hier durchbohren“, sagt Gründemann. Mehr als 100 Lastwagenladungen Sand werden so pro Jahr ans Festland gebracht und dort für den Deichbau verwendet.
Was kann dabei schiefgehen?
Es kann zu sogenannten Ausbläsern kommen, erklärt Gründemann. „Je weiter wir bohren, desto höher müssen wir mit dem Spülungsdruck werden, damit die Spülung durch den Kanal wieder zum Eintrittspunkt gelangt.“ Das Ziel sei, einen dichten Bohrkanal herzustellen. Wenn durch zerklüfteten Boden gebohrt werde, könne die Spülung ungewollt auch in andere Wege fließen. „Das schlimmste wäre, wenn die Spülung an die Erdoberfläche kommt“, sagt der Ingenieur. Das würde den geschützten Nationalpark treffen. Bislang sei das nicht passiert.
Wie kommen die Kabel unter die Insel?
Die tonnenschweren Kabel werden später mit Hilfe von Seilwinden in die leeren Schutzrohre eingezogen – und zwar von der Wasserseite aus. Dazu sind spezielle Verlegeschiffe wie die „Barbarossa“ im Einsatz. Das Schiff hat große Gerüst-Aufbauten, die aus der Ferne wie eine Achterbahn aussehen.
„Die Kabel müssen an Bord um viele Ecken herumgeführt werden“, erklärt André Lutz, Teilprojektleiter für die Seekabelverlegung. Ein Meter Seekabel wiegt etwa 50 Kilogramm. Nacheinander werden die Kabel von der Watt- und von der Nordseite durch die Leerrohre zur Inselmitte geführt, wo sie mit einer Muffe unterirdisch verbunden werden. Ein Einzug dauert ein bis zwei Tage.
Auf Norderney erfolgen viele Arbeiten parallel: Während Amprion dieses und nächstes Jahr die Bohrungen für die Anbindungssysteme BalWin1 und BalWin2 nach und nach vorantreibt, werden für die Systeme DolWin4 und BorWin4 die Seekabel in die bereits zuvor verlegten Leerrohre eingezogen.
Was passiert nach den Arbeiten mit den Inselbaustellen?
Die Netzbetreiber sind verpflichtet, zu renaturieren und zu kompensieren. Als Ausgleich für die Eingriffe durch die Bauarbeiten für DolWin4 und BorWin4 renaturiert Amprion eine rund 19 Hektar große Salzwiese am Festland. Für die Baustelle selbst gilt laut Amprion ein Null-Einleitungsprinzip. „Nichts, was wir mitbringen, dürfen wir hierlassen“, sagt Gründemann. Das bedeute, es dürften keine Öle, Benzin oder auch Frischwasser in die Umwelt gelangen.
Wie leistungsfähig sind die Kabel?
Da die Netzanbindungssysteme BalWin1 und BalWin2 zu einer neuen Leistungsklasse zählen, müssen dort statt wie bei bisherigen Systemen zwei Kabel nun drei Kabel pro System verlegt werden. Während DolWin4 und BorWin4 900 Megawatt übertragen können, sollen BalWin1 und BalWin2 später einmal mit zwei Gigawatt (also 2.000 Megawatt) mehr als das Doppelte an Energie übertragen können. Laut Amprion entspricht diese Menge dem Strombedarf von etwa vier Millionen Menschen ab 2030 und 2031.
Werden neben Norderney auch noch weitere Inseln unterbohrt?
Ja, da der Platz auf Norderney für weitere Kabeltrassen ausgeht, sind bereits Inseln weiter östlich im Blick der Planer. Wenn BalWin1 und BalWin2 fertig sind, verlaufen unter Norderney insgesamt 15 Anbindungssysteme.
Auf Baltrum gibt es nach dem Flächenentwicklungsplan Platz für fünf weitere Systeme. Der Netzbetreiber Tennet hat dafür dort in diesem Jahr mit ersten Bohrungen begonnen. Doch auch Baltrum wird Anfang der 2030er Jahre ausgelastet sein. Deshalb rückt schon Langeoog in den Fokus, wo bis zu acht Offshore-Anbindungssysteme verlegt werden sollen. „Für die zu verlegenden Leitungen über die Langeoogkorridore werden die Planfeststellungsverfahren derzeit vorbereitet“, teilt das zuständige Landwirtschaftsministerium mit.
Für mindestens sechs weitere Kabelsysteme, die im Netzentwicklungsplan der Übertragungsnetzbetreiber vorgesehen werden, fehlen noch konkrete Trassenverläufe im niedersächsischen Küstenmeer.
Können die Kabel nicht an den Inseln vorbei gelegt werden?
Darüber gibt es Streit. Umweltschutzverbände kritisieren, dass durch die vielen Leitungen, die noch absehbar gebaut werden müssen, insbesondere der Nationalpark Wattenmeer belastet wird. In einem gemeinsamen Positionspapier sprechen sich neun Umweltschutzverbände und Organisationen unter anderem dafür aus, für die Kabel alternative Routen entlang von Flussrinnen zu prüfen.
Niedersachsens Landesregierung signalisiert dafür Unterstützung. „Das Land Niedersachsen setzt sich hierbei für eine verstärkte Nutzung der Mündungen an Ems und Elbe ein“, teilt das Landwirtschaftsministerium auf Anfrage mit.
Die Netzbetreiber verweisen bislang dagegen darauf, dass die starken Strömungen durch Ebbe und Flut es nicht möglich machen, die Kabeltrassen etwa an Inseln vorbeizuführen. „Diese wirken so stark auf den Meeresboden zwischen den ostfriesischen Inseln ein, dass eine sichere Kabelverlegung hier technisch nicht umsetzbar ist“, heißt es etwa von Netzbetreiber Tennet.




