Proteste in der Türkei: Wer ist der Mann im Pikachu-Kostüm?

Die türkische Protestbewegung hat ein neues Gesicht: das Pokémon Pikachu. Die Popularität bekam es aber eher unfreiwillig, wie der Mann in dem gelben Kostüm erzählt.
Politik ist eigentlich nicht so Hasan Taşkans Ding. „Ich verfolge Politik nicht und habe mich auch nie dafür interessiert.“ Viel spannender findet der 21-Jährige aus dem südtürkischen Antalya Sixpacks, Bizeps, Comic-Helden und lustige Videos in den sozialen Medien. Mehr als 120.000 Menschen folgen ihm auf Instagram, wo er vor allem Sportvideos und -bilder von sich selbst teilt.
Trotzdem – oder gerade deswegen? – geriet der junge Mann bei den gewaltsamen Protesten gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zwischen die Fronten. Dessen Rivale, Istanbuls Oberbürgermeister und CHP-Politiker Ekrem İmamoğlu, sitzt seit anderthalb Wochen wegen des Verdachts auf Korruption und Terrorismusunterstützung in U-Haft. Damit ist Erdoğan seinen einzigen ernsthaften Herausforderer bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen losgeworden.
Seitdem ist das Land in Aufruhr. Menschen gehen auf die Straßen. Die Behörden zählen um die 2000 Festnahmen. Ein Ende der Proteste ist aber nicht in Sicht und das hat gewissermaßen auch mit Taşkan zu tun. Eher unfreiwillig ist der Fitness-Influencer nämlich zu einem Symbol des türkischen Widerstandes geworden.
Der Grund könnte banaler kaum sein: Am Sonntag kursierte in den sozialen Netzwerken ein Video der Proteste in Antalya. Zwischen den Demonstranten lief ein großer Pikachu über die Straßen. Manche Sequenzen zeigen ihn, wie er einer Menschenmasse folgt, auf anderen Clips ist zu sehen, wie ihm Menschen auf die Schultern klopfen. Bei der gelben Comicfigur handelte es sich um ein aufblasbares Kostüm des japanischen Animes. Darunter steckte der eigentlich unpolitische Fitness-Influencer Taşkan.
Was bringt Pikachu der türkischen Protestbewegung?
Bevor er sich selbst unter die Menge mischte, habe er die Proteste aus der Ferne beobachtet. „Die Ereignisse überschlugen sich und die sozialen Medien wurden mit Videos überflutet. Alle meine Freunde waren sehr angespannt“, sagte der 21-Jährige dem „Spiegel“.
Am achten Protesttag habe er sich dann vorgenommen, die Stimmung etwas aufzulockern. „Also habe ich beschlossen, mich zu verkleiden und durch die Menge in Antalya zu gehen.“ Sein Ziel: Menschen in der aufgeheizten Stimmung zum Lachen zu bringen.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich der junge Mann für die Öffentlichkeit verkleidet: Sein erstes Kostüm sei ein Dinosaurier gewesen, erzählte er. Es folgten ein Alien und schließlich Pikachu. Das gelbe Pokémon habe er ausgewählt, „weil es sehr niedlich, sehr beliebt und in gewisser Weise am populärsten ist“.
Für Aufmerksamkeit gesorgt hat die Aktion in jedem Fall: Weltweit machte Taşkans Auftritt Schlagzeilen. Die Anti-Erdoğan-Proteste kommen nun kaum mehr ohne das Pokémon aus. Ob auf Plakaten, Flaggen, als Plüschtier oder in Verkleidung: Pikachu ist bei Demonstrationen in der Türkei und im Ausland meist dabei. „Ich hätte nie gedacht, dass das, was ich gemacht habe, so eine Sensation werden würde. Ich denke, das hat viel mit Pikachu zu tun“, kommentierte der Fitness-Influencer den Erfolg.
Ein Mitglied der CHP, der Partei des türkischen Oppositionellen İmamoğlu, begrüßte den farbenfrohen Auftritt. Das Video sei ein „hervorragendes Beispiel für die Kreativität der Generation Z“ und habe die Stimmung aufgelockert.“Pikachu, wir haben dich gewählt“, steht auf einem Plakat. Das gelbe Pokémon ist zum Symbol des türkischen Widerstandes geworden
© Joan Galves / SIPA
Doch nicht jeder sieht das so positiv. Regierungsnahe Medien diffamierten Pikachu als gezielte Kampagne und „psychologische Kriegsführung“ der Opposition. Aus den Reihen der Demonstranten verlautete teilweise, das Pokémon verharmlose den Ernst der Lage und mache die Proteste lächerlich. Taşkan selbst sagte, er habe sein Zuhause mehrere Tage nicht verlassen, außer für Familienbesuche. Die Festnahmen bei den Demonstrationen hätten ihn verunsichert.
Die Videos seiner Verkleidung teilt er derweil auf Instagram und äußert sich politischer, als er es sich offenbar eingestehen will: „Ich wünsche mir eine Türkei, in der alle jungen Menschen glücklich leben. Eine Türkei, in der jeder die Freiheit hat, seine Ideen frei zu äußern.“