Neue Mitte-Studie: „Eine Germany-First-Ideologie nimmt merklich zu“

Laut der neuen Mitte-Studie denken weniger Menschen in Deutschland rechtsextrem. Doch dahinter verbirgt sich eine gefährliche Entwicklung. Warum unsere Demokratie in Gefahr ist.

Alle zwei Jahre misst die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, wie rechtsextrem und menschenfeindlich die deutsche Gesellschaft ist. Bei der vergangenen Erhebung ging eine Schockwelle durchs Land – acht Prozent aller Befragten hatten ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. 

Unter der Leitung von Prof. Andreas Zick von der Universität Bielefeld wurden auch in diesem Jahr wieder mehr als 2000 Menschen, die sich zur gesellschaftlichen Mitte zählen – also nicht rechtsextrem organisiert sind oder sich so beschreiben würden –, repräsentativ zu ihren Einstellungen befragt. Die neue Studie trägt den Titel:  „Die angespannte Mitte“. Im Interview mit dem stern stellt Prof. Andreas Zick die neuesten Erkenntnisse vor – eine Entwicklung macht ihm dabei besonders Sorge.

Herr Zick, wie geht es den Deutschen?
Eigentlich ganz gut. Zumindest sind 7Prozent zufrieden mit ihrem Leben.  

Dann ist ja alles in Ordnung. 
Nein, das heißt noch lange nicht, dass sie deswegen eine stabile Einstellung zur Demokratie hätten. 

Sie meinen, weil nur noch jeder Zweite findet, dass die Demokratie im Großen und Ganzen funktioniert?
Wir beobachten, dass das Misstrauen in die Demokratie stark zunimmt. Und wir beobachten, dass das System Demokratie in den vergangenen Jahren immer mehr am Funktionieren von Regierungen bewertet wird. Also, daran, was eine Regierung tut und wie sie debattiert. Vor allem in der jüngeren Generation. 

Die Ampel zerlegte sich selbst, die neue GroKo streitet weiter. Welche Auswirkungen hat das?
Wir erleben Regierungen, die das Spiel der Populisten mitspielen – und zwar die Erzählung des permanenten Kontrollverlusts, dem man harte politische Führung entgegensetzen müsse. Jetzt gerade haben wir die große Diskussion um Abschiebungen nach Syrien. Die Politik akzentuiert komplexe Themen, egal ob Asyl-, Gerechtigkeits- oder Klimafragen, immer empörter mit der Message: Jetzt werden wir mal richtig durchgreifen. Und dann wird zurückgerudert. Das funktioniert nicht mehr. Das daraus wachsende Misstrauen öffnet antidemokratische Einstellungen. 15 Prozent der Befragten stimmen zum Beispiel der Aussage „Wir sollten einen starken Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ zu. 

Jetzt stellen Sie in Ihrer Studie fest, dass im Vergleich zur vergangenen Erhebung immer weniger Menschen ein rechtsextremes Weltbild haben. Vor zwei Jahren waren es noch acht Prozent, nun sind es nur noch 3,3 Prozent. Das erscheint kontraintuitiv. 
Ja, es ist bemerkenswert, dass offensichtlich irgendwo eine Bremse in der Mitte funktioniert hat. Millionen Menschen gingen zum Beispiel nach dem enthüllten AfD-Geheimtreffen zu Remigration auf die Straße. 70 Prozent der Befragten empfinden den Rechtsextremismus als bedrohlich. Das scheint etwas zu bewirken. Gleichzeitig grenzt sich jeder Fünfte nicht klar von rechtsextremistischen Einstellungen ab. Dieser Graubereich bleibt stabil und wächst sogar leicht. Und, was mich persönlich überrascht hat: Während rechtsextremistische Einstellungen schrumpfen, wachsen als einzige die nationalchauvinistischen Einstellungen. Mehr als 40 Prozent der Befragten geben zum Beispiel an, dass die Deutschen endlich wieder ein starkes Nationalgefühl haben sollen. Eine Germany-First-Ideologie nimmt merklich zu.

Dazu findet parallel eine Normalisierung von rechtsextremen Begriffen und Diskursen im Mainstream statt, kürzlich erst wieder in Form der Stadtbild-Debatte. Es gibt zudem hohe Zustimmungswerte für die Aussage, dass wir jetzt eine Partei brauchen, die die Volksgemeinschaft verkörpert. Jeder Zweite, wenn wir Zustimmungs- und Graubereich zusammenzählen, stimmt dem direkt oder teils, teils zu. Die Aussage, wie viele andere Aussagen auch, verstehen die Menschen selbst aber nicht mehr als rechtsextrem. 79 Prozent der Befragten sehen sich als überzeugte Demokraten.

Gibt es Menschen, die besonders affin für eine demokratiekritische Haltung sind? 
Menschen, die prekär gestellt, also zum Beispiel arm oder in unsicheren Arbeitsverhältnissen sind, sind sehr viel stärker krisenbetroffen. Die haben gar keine Stimme, um ihre Alltagserfahrung richtig zum Ausdruck zu bringen. Das öffnet sie für Populismus, der für sich in Anspruch nimmt, Volkes Stimme zu vertreten. Das sehen wir in unseren Analysen und haben es aber auch ganz konkret wieder bei den Kommunalwahlen in NRW gesehen. 

Was hilft, um Menschen aus dem Graubereich zurückzuholen?
Die Befragten selbst setzen auf Bildung. 89 Prozent meinen, „Schulen sollten Wissen und Verständnis für politische Zusammenhänge vermitteln“. Das wird notwendig sein, aber nicht reichen. Die politische Kommunikation über Entscheidungen kann besser werden. Menschen, die ungenaue Meinungen haben, suchen heute im Netz. Da findet kaum Demokratievermittlung statt. Und es hilft eine klare Kante beim Extremismus, der erklärt, was alles passiert, wenn mit Extremisten gemeinsame Sache gemacht wird.

Sie legen in der Studie auch ein gesondertes Augenmerk auf die Jugend. 
Die jüngere Generation ist nicht so weltoffen, wie viele denken würden. Gemessen an unseren Daten ist sie sogar fremdenfeindlicher, antisemitischer und auch stärker empfänglich für ein rechtsextremes Weltbild. 

Bitte? 
Knapp sieben Prozent der 18- bis 34-Jährigen beantworten alle unsere 18 Fragen, die die rechtsextreme Einstellung messen, eindeutig rechtsextrem. Das sind mehr als doppelt so viele wie in den anderen Altersstufen. Offensichtlich hat der Rechtspopulismus da viele junge Leute abgeholt mit seiner Idee, dass Demokratie das ist, was die Regierung tut. Und damit sind aktuell viele junge Menschen im Widerstand. Denken Sie allein an die polarisierte Wehrdienstdebatte, die über die Köpfe der Jungen hinweg geführt wird. 

Also müssten die Jungen mehr einbezogen werden? 
Absolut. Das ist auch die große Hoffnung. Gerade junge Menschen sind außerdem verunsichert durch die aktuellen politischen Entwicklungen. Wir wissen aus anderen Daten wie zum Beispiel unserem Konfliktmonitor, dass Menschen mit positiven Zukunftserwartungen demokratiefester sind und an die Normen, Vielfalt und Offenheit der Demokratie glauben, ganz unabhängig davon, was die Regierung tut. Das muss adressiert werden durch Einbeziehung und politische Bildung. 

Wir haben jetzt über prekäre Lebensverhältnisse, die junge Generation und streitende Regierungen gesprochen. Am Ende liefern ihre Daten aber auch einen sehr eindeutigen Befund: Wenn es um Demokratie und eine progressive Gesellschaft geht, dann ist das Problem vor allem eins: der Mann. 
Gewalt und Rechtsextremismus sind männlich, ja. Das hat viel zu tun mit Männlichkeitsbildern. Aber der Geschlechtsunterschied schwindet. Wir finden in einigen Ressentiments keinen großen Geschlechtsunterschied mehr. Zum Beispiel bei der Fremdenfeindlichkeit oder der Befürwortung von Diktatur.

Derweil wird die Gesellschaft immer diverser. In Deutschland haben rund 30 Prozent der Menschen mittlerweile einen Migrationshintergrund. Zählen die sich eigentlich zur Mitte der Gesellschaft? 
Im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund verorten sie sich weniger in der Mitte der Gesellschaft. Integrationsprozesse bedeuten aber auch, dass sich die erste und zweite Generation auf die Mitte zubewegt und Mitte wird. Dass geht dann auch damit einher, dass in dieser Gruppe genauso Rassismus und Menschenfeindlichkeit vorkommen, selbst rechtsextreme Einstellungen. Menschen mit Migrationshintergrund befürworten vergleichsweise auch eher politische Gewalt als Menschen ohne Migrationshintergrund. 

Abschließend: Wie angespannt ist die Mitte denn nun? 
Ziemlich, würde ich sagen. Auf sie kommt eine große Aufgabe zu und die besteht angesichts der Verlockungen neuer autoritärer Gesellschaftsvorstellungen in der Verteidigung der Demokratie. Umso mehr, desto weniger Vertrauen sie in Politik investiert.