Ungefähr gestern: „Die Sims“: Wie ich einst Justin Timberlake im Pool ertrinken ließ

„Die Sims“ begleiteten unsere Autorin durch Kindheit und Jugend. Im stern erinnert sie sich an volle Konten und eine gescheiterte Ehe mit Justin Timberlake. Hommage an ein Kult-Spiel.

Früher war nicht alles besser. Manche Dinge waren sogar ziemlich schräg. Aber Nostalgie ist eine seltsame Sache: Mit genügend Abstand verursachen einem Phänomene, die man damals bitterernst nahm und anschließend lange völlig egal fand, plötzlich ein wohlig-warmes Gefühl im Bauch, wenn man an sie denkt. Diese Kolumne soll einen liebevollen, aber prüfenden Blick auf die Vergangenheit werfen. Was war so cool, dass man ihm mit Recht nachtrauern darf? Und was ist in den Untiefen der Geschichte eigentlich ganz gut aufgehoben?

 „Die Sims“: Ein Computerspiel, das kein Ende kannte – und auch keines brauchte. Im Jahr 2000 erschien es und erwischte mich in etwa so unerwartet wie die erste Staffel „Big Brother“ auf RTL Zwei. Das Prinzip ist so simpel wie brillant: Wild zusammengewürfelte Charaktere hausen so lange miteinander, bis sie sich entweder verlieben – so wie Zlatko und Jürgen – oder an die Gurgel gehen – so wie Zlatko und Jürgen.

Bis dahin waren Computerspiele für mich klar strukturiert. Entweder lief ich als Super Mario nach rechts, hüpfte auf Pilzen herum und sammelte Münzen, oder ich floh vor der Polizei in einem Auto aus der Vogelperspektive durch pixelige Straßen. Es gab Level, Gegner, und am Ende wartete ein Sieg – oder wenigstens ein Abspann. „Die Sims“ war anders. Hier gab es kein Ziel. Kein „Game Over“. Nur einen endlosen Alltag. Ein Leben ohne echte Konsequenzen. Wie „Big Brother“.

„Die Sims“: Die Geburtsstunde meines digitalen Ichs

Alles begann mit einem Besuch bei Isabel, meiner Schulfreundin. „Ich muss dir etwas zeigen“, sagte sie damals. Und was sie mir zeigte, sollte meine Welt verändern. Wir saßen an ihrem Schreibtisch, der Lüfter ihres Windows-XP-Rechners rauschte wie ein Staubsauger und pustete uns warme Luft zwischen die Zehen. Über den Röhrenbildschirm flackerte die digitale Isabel, über deren Kopf ein grüner Diamant schwebte. 

Isabel hatte ihrer digitalen Doppelgängerin ein architektonisches Meisterwerk als Haus gebaut – dem „Rosebud“-Cheat sei Dank. Für alle Unwissenden: Damit hatte man im Spiel unendlich viel Geld zur Verfügung und konnte sich endlich mal standesgemäßen Wohnraum gönnen. Bei den „Sims“ war einfach alles möglich. Und wie im echten Leben waren unsere pixeligen Ableger in jener Zeit nicht besonders klug. Der Befehl „Move objects“ war für Sims lebensgefährlich. Nahm man ihnen damit die Poolleiter, kamen sie nicht auf die Idee, einfach selbst aus dem Schwimmbad zu steigen und ertranken.

Ich wollte das alles auch. Sofort. Auf meinen Wunschzettel schrieb ich also: „Die Sims“. Weihnachten 2002 war es dann endlich so weit – die Geburtsstunde meines digitalen Ichs.

Millionenvillen, Cheats und der Sensenmann

Stundenlang saß ich vor dem Bildschirm, baute Häuser und Pools, während aus den kleinen Boxen Jazz dudelte – die Hintergrundmusik im Bau-Modus. Mein Digital-Ich führte ein Leben, das ich diktatorisch selbst bestimmen konnte, fernab von allen Regeln, die sich Erziehung schimpfen. Mal war es mit Justin Timberlake verheiratet, mal mit dem „Sims“-Double von René aus der Schule.

Und manchmal war mein Sim eine Power-Singlefrau, die dank „Rosebud“ den Arsch voll Geld hatte. Jedenfalls dachte ich, dass das Power sei. Heute weiß ich, dass ein Arsch voll Geld kein veritabler Indikator für Power ist. Sei es drum, sie lebte in einer U-förmigen Villa mit einem Pool in der Mitte und verschwendete keinen Gedanken an einen normalen Job. 

Und wenn ihr der digitale Justin Timberlake zu langweilig wurde, ließ ich, als ihre wachsame „Big Sister“, ihn eben im Pool schwimmen, entfernte mit „Move objects“ die Leiter, und der Sensenmann erledigte den Rest. Ganz ohne Beziehungsgespräche und Heckmeck. Schließlich wartete ja noch René auf mich – und wer kann sich schon auf zwei Verehrer gleichzeitig konzentrieren? 

Ein anderes Mal erschuf ich eine Nachbarschaft, in der alle Bewohner gleich aussahen. Eine Art Klon-Community. Ich wollte beobachten, was passiert. Das Ergebnis war so enttäuschend wie die letzten Staffeln „Big Brother“: Nichts passierte. Und genau das war der Punkt: Das Spiel lebte von meinem Input. Es war ein virtueller Sandkasten, in dem ich der Schöpfer war. Alles war erlaubt.

„Die Sims“ waren eine Lektion

„Geh doch raus und spiel mal wieder auf den Straßen“, hieß es irgendwann von meinen Eltern. Rückblickend hatten sie nicht ganz unrecht. Ich habe tatsächlich viel Zeit in meiner digitalen Nachbarschaft verbracht. Aber gleichzeitig bin ich froh, dass ich etwas Kreatives gemacht habe. „Die Sims“ waren mehr als nur ein Spiel. Sie waren eine Lektion in Planung, Design und sozialem Chaos, ein virtuelles Puppenhaus.

Wie die Spielerei aufhörte, weiß ich nicht mehr genau. Vielleicht lag es daran, dass das echte Leben irgendwann interessanter wurde – inklusive echtem Schulschwarm und echtem sozialen Chaos. Alles Dinge, die nicht einfach im Pool ertränkt werden können. Oder wenn, nur in einem Pool der eigenen Tränen.

Was mir aber geblieben ist, ist der Drang nach Ordnung und Gestaltung. Wenn ich heute ein Zimmer einrichte, achte ich auf Funktionalität und Optik, habe aber leider keinen „Rosebud“-Cheat mehr. Ich habe eine Schwäche für durchdachte Details und klare Strukturen. Und wenn der Kühlschrank nicht das hergibt, was ich möchte, meckere ich, so wie meine Sims mich damals anmeckerten. Aber alle Meckerei hilft mir dann so wenig, wie es ihnen damals half.

Comeback meiner Bau-Laune?

Rund 20 Jahre nach dem Hype, im Winter 2020, kam die alte Bau-Laune noch einmal auf. Die Pandemie hatte das Leben angehalten. Lockdowns bestimmten den Alltag. Bananenbrot backen fand ich langweilig, tägliches Weintrinken problematisch. Also lud ich mir „Die Sims 4“ auf meinen Laptop und legte los. 

Ich baute architektonische Meisterwerke – wie Isabel es damals tat –, ließ Sims einziehen und beobachtete sie. Doch irgendetwas fehlte. Die Magie war weg. Da war keine Belohnung, keine Wertschätzung für die Millionenvilla, die ich mühevoll entworfen hatte. Meine Sims gingen arbeiten, meckerten in ihrem Kauderwelsch, wenn der Kühlschrank leer war, und liefen grün an, wenn sie nicht duschten. Es fühlte sich seltsam an, so banal wie früher, aber ohne die Faszination von damals. Vielleicht war ich früher leichter zu beeindrucken. Vielleicht war das banale Bild auf dem Monitor auch zu nah dran an der eintönigen Realität des Lockdowns.

Trotzdem bleiben „Die Sims“ für mich eine liebenswerte Erinnerung. Ein Spiel, das eine bestimmte Zeit meines Lebens geprägt hat. Und die Erkenntnis, dass mich das echte Leben mehr reizt, ist auch wertvoll. Nur eines vermisse ich bis heute: den Cheat „Rosebud“. Den könnte mein Konto im echten Leben gut gebrauchen.