Kommentar: Till Lindemann gewinnt vor Gericht: Warum das gut für die Kunst ist

Till Lindemann hatte gegen die Kündigung seiner Verträge durch den Kiwi-Verlag geklagt. Nun hat er recht bekommen. Das Urteil ist ein Plädoyer für die Kunst des genauen Lesens.

Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch weiß, wie man Aufmerksamkeit generiert: 2013 veröffentlichte die erste Adresse für deutschsprachige Popliteratur eine Gedichtsammlung des Rammstein-Frontmannes Till Lindemann. Der Lyrikband mit dem Titel „In stillen Nächten“ wurde bemerkenswerterweise herausgegeben von dem Journalisten Alexander Gorkow, der bei der „Süddeutschen Zeitung“ die „Seite Drei“ verantwortet und dabei stets den Eindruck vermittelt, als wäre dieser Reportageplatz letztlich so etwas wie der deutsche „New Yorker“.

Das Kalkül damals war klar: feiner Verlag mit ebenso renommiertem Herausgeber versucht, ein bisschen schnelles Geld mit Grenzüberschreitung zu machen. Und wenn sich ein so feiner Verlag und solch ein renommierter Journalist für jemanden wie Lindemann verbürgten, konnte es ja vielleicht sogar auch möglich sein, dass in dem röhrenden Brachialgemüt eine lyrische Seele schlummerte. Oder?

Till Lindemanns Lyrik: frauenverachtende Machtfantasien in Stammeldeutsch

Jeder, der lesen konnte, musste allerdings schnell feststellen: Diese Gedichte waren nichts als frauenverachtende Machtfantasien, unbeholfen in irgendein Stammeldeutsch gesetzt. Klar, man kann alles irgendwie als Lyrik verkaufen. Aber das Urteil der Literaturkritik war einhellig vernichtend. Dem Verlag war’s wurscht. Der Popstar spülte Geld in die Kassen, alles andere war offensichtlich Nebensache.

Also legte man 2015 mit einem Lindemann-Sammelband nach, der aber nur bekannte Gedichte enthielt. 2020 veröffentlichte man dann wieder neues, höchst poetisches Lindemann-Material, diesmal mit dem Titel „100 Gedichte“. Wieder zeichnete Qualitätsjournalist Gorkow als Herausgeber verantwortlich. In dem Band findet sich auch das inzwischen berüchtigte Gedicht „Wenn du schläfst“. Darin schildert Lindemann eine Vergewaltigung unter Betäubung mit Rohypnol.

Wieder äußerten all jene Bedenken, die in der Grundschule gelernt hatten, ein großes A von einem kaputten Getränkeautomaten zu unterscheiden. Und dieses Mal sickerte das Entsetzen über die Gedichte aus den etwas abgehobenen Zirkeln der Literaturkritik in die breitere Öffentlichkeit. Also sah sich der Kiwi-Verleger Helge Malchow gezwungen, höchstpersönlich ein gutes Wort für seinen dichtenden Popstar einzulegen. In einer Erklärung schrieb er: „Die moralische Empörung über den Text dieses Gedichts basiert auf einer Verwechslung des fiktionalen Sprechers, dem sogenannten ‚lyrischen Ich‘, mit dem Autor Till Lindemann.“

Danke, Helge! Schlimm, diese Dummies da draußen jenseits der geweihten Flure und Kämmerchen des exquisiten Verlegerwesens! Wenn man Malchows Literaturchinesisch nun aber einfach einmal übersetzt, heißt es ungefähr so viel wie: „Ich brauche mir als Verleger keine Gedanken darüber zu machen, ob ein Text in moralischer und stilistischer Hinsicht nichts als verkommener Müll ist. So lange der Autor kein verurteilter Straffälliger ist, kann ich drucken, was ich will. It’s the Kunstfreiheit, stupid!“

2023 drohte Malchows sophistische Unterscheidung zwischen lyrischem und ekligem Ich dann allerdings sehr plötzlich den Bach herunterzugehen: Zahlreiche Frauen warfen Lindemann sexuelles Fehlverhalten und ein regelrechtes Castingsystem für weibliche Fans vor. War der Dichter Till Lindemann etwa ebenso kaputt wie sein lyrisches Ich? 

Brauchte man für die Elaborate dieses schlichten Gemüts etwa gar nicht die fein abgestimmten analytischen Werkzeuge, die eine High-End-Literaturkritik aus Tausenden von Jahren Literaturgeschichte nur deswegen herauspräpariert hatte, um angemessen von solch komplexen Werken wie etwa Nabokovs „Lolita“ sprechen zu können; die allerdings sehr schnell etwas absurd werden, wenn zum Beispiel jemand mit ihrer Hilfe versuchen würde zu erklären, dass Björn Höckes Buch „Nie zweimal in denselben Fluß“ vielleicht doch nur eine raffinierte Parodie faschistischer Denkweise sein könnte; oder dass die gewaltverherrlichende, frauenverachtende Poesie von Till Lindemann vielleicht doch eine Pretiose einfühlsamer deutscher Lyrik sein könnte.

Der Rammstein-Skandal von 2023 ließ einen schrecklichen Verdacht aufkommen: Sollte der teutonische Brachial-Sänger etwa einfach nur in seine Gedichte ballern, was ihm zwischen zwei Bier so durch die Rübe rauschte? Wie unangenehm! Die Geschäftsbeziehung mit dem Popstar schien plötzlich eher schädlich als erfreulich.

Pornografisches Ich zertrümmert lyrisches Ich

Der Verlag versuchte, so schnell wie möglich die Notbremse zu ziehen. Bald fand man ein Mittel: In irgendeiner dreckigen Kloschüssel des Internets fand sich der ekelhafte Porno „Till The End“, in dem Lindemann sein schönes, gutes und wahres Gedichtbuch aus dem erhabenen Kölner Literaturverlag in die Kamera hielt, während er Sachen machte, von denen er bislang nur in seinen feinen Kiepenheuer-und-Witsch-Lyrikbänden fantasiert hatte. Was sollte denn das? Wie überaus unfair von Lindemanns pornografischem gegenüber seinem lyrischen Ich.

Empört kündigte der Verlag dem Dichter alle Verträge mit der Begründung, mit dem wenig lyrischen Verhalten in dem Porno habe Lindemann das kostbare Verlagsvertrauen enttäuscht.

Lindemann klagte gegen die Vertragskündigung und hat jetzt vom Landgericht Köln recht bekommen. Es wurde festgestellt, dass alle Verträge zwischen Lindemann und Kiepenheuer & Witsch weiterhin Bestand haben. Begründung: Schließlich habe der Verlag immer schon wissen können, dass Lindemanns künstlerisches Geschäftsmodell darin besteht, aus Grenzüberschreitungen Kapital zu schlagen. Wohl wahr. Schließlich hat der Kölner Verlag dabei immer sehr gern mitgemacht.

Auch in der Verwendung des Buches als Requisite in Lindemanns Porno konnte das Gericht nichts Verwerfliches sehen. Der Argumentation des Verlages, wonach die Handlungen im Video nicht solche einer Kunstfigur, sondern diejenigen des Klägers selbst seien, könne nicht gefolgt werden, schrieb das Gericht. Und ergänzte fast schon diabolisch: „Genauso wie im Gedicht das lyrische Ich eine künstliche Figur ist, sind die in einem filmischen Werk auftretenden Personen grundsätzlich als solche zu betrachten.“

Diese juristische Argumentation entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn im Grunde macht das Gericht nichts Anderes, als noch einmal eben jene Argumente für Lindemann ins Feld zu führen, die damals schon dessen Verleger Malchow für ihn verwendet hatte. Nun sollte man auch etwas Nachsicht mit dem armen Herrn Malchow haben. Denn Geschäftemachen heißt ja meist nichts anderes, als windige Ausreden für irgendeinen Bullshit zu erfinden.

Das Kölner Urteil ist überaus erfreulich. Denn das Gericht sagt nichts anderes als: „Liebe Verlage, lest halt genauer, was ihr veröffentlicht. Und kommt nicht nachher mit irgendwelchen fragwürdigen Argumenten daher, wenn ihr eure Promi-Kühe nicht mehr so problemlos melken könnt, wie ihr es euch ausgemalt habt.“

Literatur ist keine Geheimwissenschaft. Texte kann man analysieren. Und beurteilen. Und dann danach handeln. Es ist kein Geheimnis, dass der Marquis de Sade ein ekelhaftes Frauenbild vertritt. Es ist kein Geheimnis, dass die Romane von Botho Strauss eine rechtskonservative Grundierung haben. Es ist kein Geheimnis, dass Thilo Mischkes Roman „In 80 Frauen um die Welt“ sexistisch ist. Der Job eines Verlegers ist es, Texte zu beurteilen und dann danach zu handeln: absagen oder annehmen. Bei Lindemann hat sich Kiwi für Annehmen entschieden. Es wäre zu einfach, wenn man die Konsequenzen solcher Entscheidungen nachher nicht tragen müsste.

Kunstfreiheit darf niemals nur ein Vorwand sein, um aus jedem Schrott Kapital schlagen zu dürfen. Sondern sie beinhaltet auch eine Verantwortung, derer man sich nicht einfach entledigen kann, wenn die ganze Chose brenzlig wird. Das Kölner Gerichtsurteil ist ein Plädoyer für die Kunst des genauen Lesens.