Tarifverträge: Hälfte der Beschäftigten in NRW arbeitet mit Tarifvertrag

Immer weniger Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalen arbeiten noch mit einem Tarifvertrag. Das hat einer Studie zufolge Konsequenzen für Gehalt und Arbeitszeit.

Die Tarifbindung in Nordrhein-Westfalen geht weiter zurück. Nur noch etwa die Hälfte (51 Prozent) der Beschäftigten im bevölkerungsreichsten Bundesland arbeitete 2023 mit einem Tarifvertrag. Das geht aus aktuellen Zahlen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. 

Vor rund 30 Jahren wurden den Angaben zufolge noch 82 Prozent der Beschäftigten nach Tarif entlohnt. Inzwischen liegt NRW bei der tariflichen Abdeckung nur noch knapp über dem Bundesschnitt von 49 Prozent. Auch im Vergleich zu den anderen Bundesländern sackte NRW ab. Inzwischen liegt das industriegeprägte Bundesland noch auf Platz sechs bei der Tarifbindung. Insgesamt sei die Tarifbindung aber in allen Bundesländern rückläufig. 

Mehr Gehalt und weniger Arbeitszeit

Die sinkende Tarifbindung hat nach Angaben des DGB NRW konkrete Auswirkungen, beispielsweise beim Gehalt: Beschäftigte in tariflosen Unternehmen erhielten im Durchschnitt 8,5 Prozent weniger Lohn als in tarifgebundenen Unternehmen. Außerdem arbeiteten Beschäftigte in tariflosen Unternehmen rund 50 Minuten mehr pro Woche als tarifgebundene Arbeitnehmer. 

Im KfZ-Handwerk verdiene ein Arbeitnehmer 820 Euro mehr als ein Beschäftigter in einem Betrieb ohne Tarifbindung, sagte Özlem Yarar von der Handwerkskammer Düsseldorf. Das bedeute viel für die Kaufkraft und Sicherheit der Familien. 

Appell an Ministerpräsident Wüst

Die Vorsitzende des DGB NRW, Anja Weber, sprach von einem „fatalen Signal“. Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) habe ein Tariftreuegesetz versprochen, und die Landesregierung arbeite auch daran. „Jetzt muss es auch Realität werden.“ Gerade in der aktuellen wirtschaftlich schweren Situation brauchten auch Arbeitnehmer Zuversicht, Sicherheit und Perspektive. 

Öffentliche Aufträge dürften nur an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden. Das Tariftreuegesetz müsse auch für Kommunen gelten, denn über sie liefen rund zwei Drittel aller öffentlichen Aufträge in NRW. 

In ihrem Koalitionsvertrag haben CDU und Grüne festgeschrieben, dass bei der öffentlichen Vergabe tarifgebundene Firmen bevorzugt werden sollen. Wo nötig, sollen dafür neue Regeln geschaffen werden. Das Land solle als Vorbild vorangehen. Auch NRW-Arbeitsminister Josef Laumann (CDU) macht sich seit langem für Tarifverträge stark.

Milliarden-Schäden durch Tarifflucht

Dass es in NRW noch kein Tariftreuegesetz gebe, sei auch eine Frage der Prioritätensetzung, sagte Weber. „Wir sind schon verärgert darüber, dass das so lange gedauert hat.“ Das Land müsse auch bereit sein, „mal einen Konflikt zu führen oder auch für Tarifbindung zu werben“.

Nach Angaben Webers entgehen dem Staat durch Tarifflucht jährlich bundesweit rund 130 Milliarden Euro an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Professor Thorsten Schulten vom WSI wies darauf hin, dass auch im Sondierungspapier von Union und SPD für eine mögliche Koalition in Berlin die Idee eines Bundestariftreuegesetzes auftauche. 

In NRW sind der Erhebung des WSI zufolge noch 26 Prozent, also knapp über ein Viertel der Betriebe, an einen Tarifvertrag gebunden. Der Unterschied zu den 51 Prozent der tarifgebundenen Beschäftigten zeige, dass in der Tendenz immer noch eher Großbetriebe tarifgebunden seien, sagte Schulten. Während in der öffentlichen Verwaltung fast 100 Prozent und in der Energieversorgung rund 87 Prozent der Beschäftigten mit Tarifverträgen arbeiten, sind es im verarbeitenden Gewerbe noch 53 Prozent und im Handel 28 Prozent.

Als einen zentralen Grund für die sinkende Tarifbindung sieht Weber den Strukturwandel. Derzeit seien gerade gut bezahlte und tarifgebundene traditionelle Industriearbeitsplätze bedroht. Gleichzeitig entstünden viele kleinere Betriebe und neue, individualisierte Arbeitsplätze in Bereichen, die keine Tradition mit Tarifverträgen hätten. 

Tarifbindung bei neuen Unternehmen gering

In der Regel sei bei alteingesessenen Unternehmen die Tarifbindungstradition viel höher als bei neu gegründeten Unternehmen. Hinzu komme, dass sich auf der Arbeitgeberseite die Tarifflucht verstärkt habe.“Tarifverträge sind uns nie geschenkt worden. Tarifverträge haben immer auch etwas mit Mächtigkeit zu tun“, sagte Weber. 

Andere Länder wie etwa das Saarland seien mit Tarifbindungen weiter, sagte Weber. Dort würden Kernbranchen definiert, und die wesentlichen Regelungen seien in einer Rechtsverordnung vorgegeben. Als Kernbranchen für Tarifbindungen kämen beispielsweise die Gebäudereinigung, das Wach- und Sicherheitsgewerbe, Hotels und Gaststätten oder das Baugewerbe infrage.