Der Fall Sonja Nientiet: Sie ist seit sieben Jahren Geisel von al-Shabaab. Warum holt sie niemand raus?

Sonja Nientiet managte in Somalia Hilfsprojekte, als sie 2018 entführt wurde. Seitdem halten Islamisten die Deutsche gefangen. Ihre Freunde wollen nicht länger schweigen.
„Hallo, mein Name ist Sonja Nientiet. Ich bin deutsche Staatsbürgerin aus der Stadt Hamm“, sagt die Frau in dem Video. „Ich wurde am 2.Mai 2018 entführt, während ich für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Mogadischu arbeitete. Nun habe ich fast sieben Jahre in Somalia verbracht.“
Die Frau spricht gefasst, aber monoton. Sie trägt einen Hidschab, nur das Gesicht ist zu sehen, es wirkt müde. Sie sitzt vor einem dunklen Vorhang. Ton, Kameraposition, Ausleuchtung: Alles wirkt professionell. Sie spricht in kurzen Sätzen auf Englisch. So können die Entführer ihre Worte kontrollieren. Sonja Nientiet soll keinen Zweifel an ihrer Identität lassen.
Das Video ist ein Zeugnis des Zwangs, ein gefangener Mensch spricht nicht frei. Wahr aber bleibt: Seit mehr als sieben Jahren ist Sonja Nientiet als Geisel in der Gewalt der islamistischen Terrororganisation al-Shabaab in Somalia, entführt vom Gelände des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) in Mogadischu. „Leider“, sagt sie im Video, „haben das IKRK und meine Regierung nichts getan, um meine Freilassung zu erreichen.“
Das Geiselvideo ist das erste offizielle Lebenszeichen seit Jahren
Am Ende, nach fünf Minuten, wendet sich Sonja Nientiet direkt an Olaf Scholz, damals noch Bundeskanzler: „Ihr Eingreifen kann den Unterschied zwischen Leben und Tod für mich bedeuten. Bringen Sie diese schreckliche Tortur für mich zu einem Ende und holen Sie mich sicher heim. Zurück nach Hause, wo ich hingehöre.“
Das Video, am 26. März 2025 auf Youtube erschienen, erzeugte viel Mitleid in Somalia und Schlagzeilen auf der ganzen Welt. Ein furchtbares Schicksal, beklemmende Sätze. Eine deutsche Krankenschwester, die sich der Humanität verschrieben hatte und den Opfern von Kriegen an den härtesten Orten der Welt, als Geisel von Dschihadisten.
Sonja Nientiet im März 2017 in Jordanien. Sie macht ein paar Tage frei vom harten Einsatz in Aleppo und geht auf Berg- und Wandertour, der Fahrer ist ein guter Bekannter von ihr
© privat
Auch Freunde von Sonja Nientiet sahen die Aufnahme. „Sie da so in dieser regungslosen Verzweiflung zu sehen, nachdem wir über Jahre trotz allen Drängens beim Roten Kreuz keinerlei Information bekamen, dass sie lebt, hat mich sehr ergriffen“, sagt ein Tierarzt aus dem Sauerland, der Nientiet seit zwei Jahrzehnten kennt. Als sie ihm geschrieben hatte, dass sie fürs IKRK nach Somalia gehen würde, hatte er ihr geantwortet: „Pass auf Dich auf und denk dran“. 1995 war er als Entwicklungshelfer der Johanniter in Somalia gewesen und selbst drei Wochen lang entführt worden.
„Und bei ihr sind sieben Jahre daraus geworden“, sagt der Tierarzt. „Ich kann es gar nicht begreifen.“
Keine Geisel befand sich länger in der Gewalt von al-Shabaab als Sonja Nientiet. Das Video wies erstmals öffentlich nach, dass sie nach all den Jahren noch am Leben ist. Aber warum ist sie dann nicht längst freigekommen wie so viele andere Entführte in Somalia?
Nach aktuellen Recherchen des stern stellt sich diese Frage drängender als je zuvor. Denn das Video mag der erste öffentliche Lebensnachweis gewesen sein, es war aber nicht der erste Lebensnachweis – und wohl auch nicht der erste Versuch der Entführer, in Lösegeld-Verhandlungen über ihre Geisel zu treten.
Der Fall Sonja Nientiet erzählt daher nicht bloß von großen Qualen und viel Leid, sondern auch von mutmaßlich verpassten Chancen. Er wirft ein Schlaglicht auf das IKRK, das sich mindestens fragwürdig verhielt. Auf das Auswärtige Amt, das es in mehr als sieben Jahren nicht geschafft hat, Sonja Nientiet heimzuholen. Und auf eine komplizierte Frage, die so alt ist wie Geiselnahmen selbst: Schadet oder hilft Öffentlichkeit?
Geiselbefreiungen in Somalia gelten als extrem herausfordernd
Niemand hat die Terrororganisation al-Shabaab so intensiv erforscht wie der norwegische Politologe und Historiker Stig Jarle-Hansen. Der Professor verfasste das Standardwerk „Al Shabaab in Somalia“, er ist weltweit angesehen und pflegt vor Ort Kontakte auf allen Seiten. Über den Fall Sonja Nientiet sagt er: „Es gab chaotische Verhandlungen und falsche Vermittler von Anfang an. Es gibt viele falsche Vermittler in Somalia. Und falsche Vermittler bedeutet, dass man Teile der Shabaab erreicht, die für diese deutsche Geisel nicht wirklich relevant waren.“
Die Bedingungen in Somalia sind herausfordernd. Amerikanische Spezialkräfte machen dort mit Drohnen Jagd auf die islamistischen Terroristen, der Präsident hat gegen sie den „totalen Krieg“ ausgerufen. Ein deutscher Sicherheitsexperte, der sich mit Geiselnahmen vor Ort auskennt, sagt dem stern: „Da fährt man schon mal ein, zwei Wochen, um Schlüsselpersonen treffen zu können.“
Kurz gesagt: Es ist nicht leicht, mit jenen in Kontakt zu treten, die Sonja Nientiet gefangen halten.
Mindestens eine Chance dürfte es aber gegeben haben. Auch hierbei spielt ein Video eine Rolle. Diese Aufnahme jedoch gelangte nie an die Öffentlichkeit. Sie liegt dem stern vor.
Die Sequenz ähnelt dem Youtube-Video aus dem März. Gleiche Verschleierung, gleicher Bildausschnitt, der gleiche beklemmende Tonfall. Sonja Nientiet erzählt von ihrer Mutter, von ihrem früh verstorbenen Vater. Sie sagt, dass sie im November 1970 geboren wurde, dass sie in Hamm aufgewachsen ist. Auch dies alles mutmaßlich Informationen, die dazu dienen sollen, ihre Identität zweifelsfrei zu belegen.
Sonja Nientiet sagt, die Bedingungen würden jeden Tag schlimmer
Sogar ihren Bildungsweg schildert Sonja Nientiet: Grund- und Realschule, Berufskolleg für Sozialarbeit, Krankenpflegeschule in der St.-Barbara-Klinik, Pflegemanagement-Studium in Frankfurt, Masterstudiengang Internationales Gesundheitswesen am Tropeninstitut Amsterdam. Sie sei in viele verschiedene Länder gegangen „für meine humanitäre Arbeit“. Zentralafrikanische Republik, zweimal Südsudan, Haiti, zweimal Kongo, Jordanien, Aleppo in Syrien. Und dann Mogadischu, Somalia.
„Die Situation wird von Tag zu Tag schlimmer“, sagt Sonja Nientiet in dem Video. Es endet nach knapp sieben Minuten mit einem Appell an die Bundesregierung. „Ich ringe mit mir selbst und mit Visionen, mir das Leben zu nehmen, weil mein Gesundheitszustand so schlecht ist.“ Sie sei eine gute deutsche Staatsbürgerin und nie mit dem deutschen Gesetz in Konflikt geraten, sie habe Steuern in Deutschland gezahlt und stets Werte wie gute Qualität und Fairness zu vermitteln versucht. „Die deutsche Regierung hat die Macht, alles zu tun, um mich nach Hause zu holen. Aber jetzt, wo ich die Hilfe brauche, fühle ich mich vergessen.“
Wie das Youtube-Video war auch diese unveröffentlichte Aufnahme, was Sicherheitsexperten einen „Pol“ nennen: ein „proof of life“, ein Lebensnachweis. Allerdings ist das unveröffentlichte Video älter. Nach stern-Informationen kursierte es bereits Anfang 2024 unter Mittelsmännern mit Kontakten zu al-Shabaab in Somalia sowie zum Bundesnachrichtendienst (BND).
Ein solcher „proof of life“ ist Beleg für die Kompetenz der Mittelsmänner, denen er anvertraut wird. Er zeigt, dass ein Mittler eine tragfähige Kontaktlinie zum „Inhaber“ der Geisel hat. Das kann innerhalb einer größeren Organisation jene Untergruppe sein, die tatsächlich die Kontrolle über die entführte Person ausübt. Bei ernsthaften Verhandlungen um eine Freilassung läuft letztlich nichts ohne Zustimmung der „Inhaber“.
Neue Informationen sollen Krisenstaab im Auswärtigen Amt verärgert haben
Der Kontakt zu den Männern, die das Video vermittelten, blieb trotz dessen offenbar ungenutzt. Der Krisenstab im Auswärtigen Amt (AA) in Berlin setzte auf andere Mittelsmänner. Als die Aufnahme auftauchte, hätten deutsche Stellen verärgert reagiert, so berichten Insider. Und als ein Sicherheitsdienstleister Monate später Informationen anbot, die schwer zu beschaffen waren, und detaillierte Vorschläge unterbreitete, wie der Fall zu lösen sei, soll der Krisenstab keinerlei Interesse gezeigt haben. Dabei hatte das AA den Mann über Jahre als gute Quelle genutzt – auch im Fall Nientiet.
Ein halbes Jahr nach dem Auftauchen des Videos, im vergangenen Sommer, starb in Hamm die schwer erkrankte Mutter von Sonja Nientiet im Alter von 84 Jahren. Sie erfuhr bis zu ihrem Tod nicht, ob ihre Tochter noch lebt.
Die Behörden hatten das Video geheim gehalten, sogar vor der Mutter. Auch Freunde von Sonja Nientiet blieben ahnungslos – bis die Entführer offenbar ihre Strategie änderten und im März dieses Jahres direkt an die Öffentlichkeit gingen: mit dem Youtube-Video.
Die Freunde waren schockiert. Sie lebte, immerhin. Aber wie? „Sie sieht tatsächlich um 20 Jahre gealtert aus“, sagt ein früherer Akustik-Professor aus dem Allgäu. „Sie da so zu sehen, fand ich extrem schwierig.“ Er hatte noch jene Sonja im Kopf, die mit ihm und im Trikot von Borussia Dortmund 2017 auf Bergtour in Jordanien ging, Übernachtung unterm Sternenhimmel im Wadi Rum, einer Marskulisse aus Wüste, Sandstein und Granitfelsen. Für 2018 hatten sie einen gemeinsamen Urlaub in Dubai mit Biketour durch die Wüste angedacht.
Sonja Nientiet im BVB-Trikot bei einer Bergbesteigung im Wadi Rum, rund ein Jahr vor ihrer Entführung in Somalia
© privat
Auch Olga Platzer, mit der Sonja Pflegemanagement studierte, war erschüttert. Das war nicht mehr der lebhafte, kontaktfreudige Mensch, der sie durchs Leben begleitet hatte, sondern „eine gebrochene Frau“.
Die Öffentlichkeit soll von dem Fall nichts erfahren
Von Beginn an hatte Olga Platzer gekämpft, jahrelang. Immer wieder hakte sie in Genf beim Internationalen Roten Kreuz nach – wortreiche Antworten, professionell verpacktes Nichts. Auf Drängen des Roten Kreuzes löschte sie alle Postings, die sie nach der Entführung ins Netz gestellt hatte. Eine Initiative mit Freunden, per Crowdfunding Geld zu sammeln für Sonjas Freiheit, so wie dies andere Familien für ihre Geiseln in Somalia erfolgreich gemacht hatten, wurde nach scharfer Intervention des IKRK gestoppt. Auf ihren Brief an Außenminister Maas bekam sie eine Antwort vom Roten Kreuz – „mit verbalem Druck“, nur nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Ihrem Schreiben an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier folgten die üblichen Beschwichtigungen durch den Krisenstab der Bundesregierung. Man könne „keine Details mitteilen“. Man arbeite „weiter beharrlich daran, dass Sonja Nientiet wieder in Freiheit kommt“.
Das war vor zweieinhalb Jahren. Sonja Nientiet ist noch immer nicht wieder in Freiheit. Neulich schrieb Olga Platzer auf Facebook: „Sonjas Freunde und ich kämpfen seit sieben Jahren darum, dass man ihr endlich hilft. Wir haben uns kleinreden und unter emotionalen Druck setzen lassen, dass wir Sonja mit jeglicher Öffentlichkeitsarbeit gefährden.“
Damaliger Außenminister Maas stoppt in letzter Sekunde eine Befreiungsoperation
AA und Rotes Kreuz versuchen nach wie vor, den Fall aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Beide haben Medien gebeten, das Youtube-Video aus dem März nicht zu verbreiten.
Deutsche Medien berichten tatsächlich kaum, selbst „Bild“ nicht. „Bild am Sonntag“ hatte sechseinhalb Jahre nach der Entführung Ende 2024 den einzigen nennenswerten Beitrag überhaupt über den Fall veröffentlicht, ohne zu wissen, ob Sonja Nientiet noch lebte. Der Bericht schilderte das lange Bangen der verstorbenen Mutter und enthüllte geheime Planungen für eine militärische Befreiungsaktion durch die Bundeswehr in Somalia. Sie lagen Jahre zurück. Der BND hatte die Geisel lokalisiert, Spezialkräfte vom deutschen KSK die Operation vorbereitet, US-Militärs Unterstützung mit Helikoptern zugesagt. In letzter Sekunde habe der damalige Außenminister Heiko Maas alles gestoppt.
Medienberichte über Geiselfälle sind heikel. Es gibt zwei Denkschulen. Die eine besagt: Alles andere als stille Diplomatie gefährdet Freilassungsbemühungen und womöglich das Leben der Geisel selbst. Medienberichte spielen Entführern in die Hände, locken geldgierige Trittbrettfahrer an, erhöhen den Preis auf dem Weg zu einer Freilassung.
Die andere Denkschule besagt: Stille Diplomatie funktioniert nicht. Diplomaten und Sicherheitsbehörden ohne öffentlichen Druck agieren zu lassen, führt zu fehlendem Engagement, niedriger Prioritätenstufe, Verzicht auf alternative Initiativen.
Al-Shabaab will mutmaßlich Geld für Sonja Nientiets Freilassung. Offiziell zahlt die Bundesregierung kein Lösegeld, das IKRK auch nicht. Unklar ist jedoch, unter welchen Konditionen das IKRK in Somalia auch in Gebieten Projekte betreiben kann, wo al-Shabaab stark präsent ist. Lösegeldzahlungen waren lange Usus in Somalia. 2020 kam eine Italienerin frei, man ließ es so aussehen, als sei dies allein Werk von Geheimdienstarbeit. Laut einer Studie von Interpol, UN und Weltbank entführten Piraten allein zwischen 2005 und 2012 vor der Küste des Landes 179 Schiffe, und 85 Prozent wurden gegen Lösegeld freigegeben. Insgesamt nahmen die Piraten bis zu 413 Millionen Euro ein. Auch etliche deutsche Reeder kauften ihre Schiffe, Frachten, Crews frei, und die Krisenstäbe in den Ministerien sahen dabei zu. Wissend, dass Lösegeld für Piraten weitere Piraterie bedeutet.
„Ich empfehle Angehörigen aus eigener Erfahrung, sofort an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt Mariam Claren. Ihre eigene Mutter wurde fast vier Jahre im Iran festgehalten. Claren schmiedete ein Netzwerk betroffener Geiselfamilien in Europa, organisierte Patenschaften von Politikern, öffentliche Aktionen, Podcasts. Im Januar 2025 ergab sich schließlich eine Gesamtkonstellation, in der das Auswärtige Amt die Mutter freibekam.
Das Youtube-Video von Sonja Nientiet findet Mariam Claren „herzzerreißend“. Nicht einmal sie hatte zuvor von diesem Schicksal etwas mitbekommen. „Wäre sie meine Mutter, würde ich sofort jeden mobilisieren“, sagt sie. „Ganz klar: Bei allen Geiselfamilien, die ich kenne, hat öffentlicher Druck geholfen.“ Die Opfer dürften nicht vergessen werden. „Den Fall totzuschweigen und sie so ihrem Schicksal zu überlassen, ist grob fahrlässig. Wurde da überhaupt verhandelt? Besteht ein Erfolg versprechender Kontakt? Offensichtlich nicht, denn würde es sonst dieses Video geben?“
Beteiligte Organisationen wollen sich nicht zum Fall Nientiet äußern
Das AA antwortet auf eine stern-Anfrage zum Fall Nientiet mit einer Standardfloskel: „Die Bundesregierung äußert sich grundsätzlich nicht zu Entführungsfällen deutscher Staatsangehöriger im Ausland.“ Keinen Kommentar gibt es vom Bundesnachrichtendienst (BND), dort gelten Informationen über solche Geiselnahmen quasi als Heiligtum. Das Rote Kreuz in Genf meidet ein Hintergrundgespräch mit dem stern und schreibt: „Das Internationale Rote Kreuz wird alles tun, was wir können, dass Sonja freikommt.“
Auch zum Ablauf der Entführung hat das Rote Kreuz nie Stellung bezogen. Der Delegationsleiter für Somalia räumte nur ein, „dass Sonja aus unseren Räumlichkeiten in Mogadishu“ entführt wurde.
Die Entführung ereignete sich am 2. Mai 2018. Ihr Einsatz in Somalia hatte drei Monate zuvor begonnen, Ende Januar 2018. Drei weitere Monate zuvor war ein mit Sprengstoff beladener Lastwagen vor dem Safari Hotel in der Hauptstadt Mogadischu explodiert, mehr als 580 Menschen starben – das Massaker wurde al-Shabaab zugerechnet. Die Islamisten gelten als eine der wichtigsten Filialen des Terrornetzwerks al-Qaida, bis heute kontrollieren sie große Gebiete. Dazu kommen der IS, Warlords, Piraten, kriminelle Netzwerke, Clan-Rivalitäten, wuchernde Korruption, Anschlags- und Entführungsgefahr – Somalia ist hochgefährlich. Gemanagt wurden die IKRK-Projekte deshalb von Nairobi aus. Von dort flogen Sonja Nientiet und andere internationale Mitglieder der Somalia-Delegation montags früh im Dash-8-Propellerflugzeug nach Mogadischu und donnerstags früh zurück.
Sonja Nientiet dürfte das alles nicht geschreckt haben. Sie hatte für „Ärzte ohne Grenzen“ gearbeitet und für „Caritas International“, seit 2014 für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Der Job war gut dotiert, das war ihr wichtig. Im April 2017 mailt sie ihrem Freundeskreis: „Ich bin jetzt seit einer Woche wieder in Aleppo.“ In der syrischen Islamistenhochburg herrschte damals nach Jahren mit brutalen Flächenbombardements durch russische und syrische Truppen ein brüchiger Waffenstillstand. Sonja Nientiet berichtete ihren Freunden von den gepanzerten Sonderschutz-Fahrzeugen, in denen die Delegierten zu Lagern voller Binnenvertriebener gefahren wurden: „Ich musste lernen, wie man eine Tür öffnet und schließt. Eine Tür hat ein Gewicht von 300 kg. Da ist der Finger ab, wenn man sich dumm anstellt.“
In Aleppo arbeitete sie an einer Strategie zur Primären Gesundheitsversorgung, doch alles zog sich, „schwierig, nicht zu schnell die Frustschwelle zu erreichen“. Abends lernte sie das arabische Alphabet, eine Stunde mit Schreibübungen. „Der Frühling ist da, wir können die Dieselöfen auslassen. Ich kann nach der Arbeit meinen Balkon nutzen, und endlich bleibt es bis 19.00 Uhr hell. Mein Kanarienvogel sitzt neben mir und knuspert an einer Erdbeere.“
Sicherheitsmitarbeiter des IKRK war an der Entführung beteiligt
Im Frühjahr 2018 berichtete sie ihren Freunden von den ersten Tagen in Mogadischu: „Die Kleiderordnung: langer Rock bis zu den Fußknöcheln, lange Bluse bis über Po und Ellenbogen, auch die Haare müssen bedeckt sein.“ Hinterm Bürogebäude sei die „Residenz“ („ein großes Wort für unsere Unterkünfte“), da könnten sie auch Hosen und T-Shirt tragen („dort muss es unser Personal eben so hinnehmen“). Außer für die Arbeit im Krankenhaus und in einer Klinik, immer mit Sicherheitsbegleitung, „verlassen wir unseren Campus nicht“. Lokale Mitarbeiter würden alle Einkäufe erledigen, und „wir (Ausländer) dürfen nicht irgendwo Tee trinken gehen aus gutem Grund.“ Umso froher sei sie, „dass wir eine echt gute Muckibude eingerichtet haben! Mit Crosstrainer, Ergometer und Rudermaschine, dazu meine Yogamatte und TRX-Bänder. Ich werde das zu einer Routine machen. Viele liebe Grüsse, Soni“.
Örtlichen Medienberichten zufolge wurde sie am Abend des 2.Mai 2018, einem Mittwoch, gegen 20 Uhr vom gesicherten Gelände des Roten Kreuzes verschleppt, in Gegenwart somalischer Wachkräfte des IKRK. Weggefahren wurde sie demnach in einem grauen Suzuki-Escudo-Geländewagen, zugelassen auf das Rote Kreuz.
„Sie wurde von einem Mitglied der IKRK-eigenen Sicherheitswache gekidnappt“, sagte ein Sprecher des somalischen Innenministeriums am Tag danach. „Der Name des Kidnappers ist Mohamud Alas.“ Kurz danach stoppte die Berichterstattung über den Fall.
Ein Rechercheur, der sich mit al-Shabaab auskennt, befragte später Zeugen und Mitwisser, um das Geschehen zu rekonstruieren. Nach mehreren Monaten verfasste er einen vertraulichen Bericht. „Die Entführung war eine gezielte und gut organisierte Aktion von Insidern und externen Mitarbeitern“, heißt es darin. „Finanzielle Anreize“ hätten die Kooperation des Sicherheitspersonals ermöglicht. Mohamud Alas habe sich bei Beförderungen in der Sicherheitsmannschaft des IKRK übergangen gefühlt. Einem ihm vermittelten Finanzier von al-Shabaab in Mogadishu habe er daraufhin detaillierte Informationen über Sonja Nientiet geliefert, über Tagespläne und Routinen, genaue Aufenthaltsorte und -zeiten. Die Operation sei mit einer Summe von 200.000 US-Dollar für Alas, drei weitere somalische Wachen in der Station sowie zwei externe Kollaborateure vorfinanziert worden. Zwei Tage nach Auszahlung sei die Tat erfolgt.
Warum traf es ausgerechnet Sonja Nientiet?
Die Täter seien für Absprachen mit sicheren Mobiltelefonen ausgestattet worden. Nach erfolgter Entführung habe sich einer von ihnen in einem Fischerdorf nördlich von Mogadischu mit einem der Telefone orten lassen. So habe er Ermittler auf die falsche Spur gelockt. Währenddessen sei die Geisel in den Süden der Hauptstadt transportiert worden – in eine Zone unter fester Kontrolle von al-Shabaab. Nach Ankunft der Geisel dort soll Alas eine weitere, fünfstellige Summe erhalten haben. Der Bericht empfiehlt weitere Ermittlungen zu den namentlich bekannten Tätern und ein besseres Screening-Verfahren für somalische Ortskräfte internationaler Organisationen.
Heute lebt der Kopf der Kidnapper angeblich in Al-Shabaab-Gebiet, unbehelligt wie seine Mittäter. Offen ist, warum ausgerechnet Sonja Nientiet entführt wurde und niemand der übrigen zehn damals anwesenden internationalen IKRK-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie galt als professionelle Expertin mit Gespür für Missstände, die kein Blatt vor den Mund nahm. Ihre Chefin sei „sehr bestimmend“ und „sicherlich mit Vorsicht zu genießen“, schrieb sie gleich in ihrer ersten Mail aus Somalia an den Freundeskreis, auch eine weitere Managerin sah sie skeptisch – „regelmäßig Yoga und Meditieren ist hier sicherlich notwendig!“ Hinter vorgehaltener Hand behaupten heute Sicherheitsfachleute in Mogadischu, dass Sonja Nientiet irgendwann in ihren drei Monaten vor Ort zu viele Fragen stellte. Wo Schweigen verordnet ist, blühen Gerüchte.
Im IKRK-Jahresbericht für 2018 wird die Entführung nur am Rande erwähnt als „schwerwiegender Sicherheitsvorfall in Somalia“. Nach dem Versagen des eigenen Risikomanagements in Mogadischu zog das IKRK alle Aktivitäten in dem Fall an sich. Es ging dabei auch um den makellosen Ruf der riesigen humanitären Organisation mit Stammsitz Genf, die ihr Zwei-Milliarden-Jahresbudget vor allem durch freiwillige Beiträge von Regierungen finanziert. Die größten Zahler sind die USA, Großbritannien und Deutschland. Ob die Bundesregierung ihren Einfluss geltend machte, ist unklar. Ebenso, inwieweit das AA sich in den Fall einbrachte – oder das IKRK einfach mal machen ließ.
Verantwortlich im Genfer Hauptquartier war Farid Chabrieh, ein angesehener Krisenmanager, der aus dem Libanon stammt. Er hatte das IKRK-Verhandlungsteam für Geiselnahmen mitgegründet. Chabrieh und seine Leute steuerten den Fall Sonja Nientiet, wählten unter den vielen Anbietern Mittelsmänner aus, ersannen mit seinem Team Strategien. 2023 bekam Chabrieh aus den Händen eines Gönners aus Katar im Genfer „Palais des Nations“ einen Preis der UN als „bester Unterhändler des Jahres“. Besonders gelobt wurde seine Geschicklichkeit bei Geiselverhandlungen mit bewaffneten, nichtstaatlichen Gruppierungen. Mit Sonja Nientiet hatte die schöne Auszeichnung nichts zu tun.
Chabrieh hat mittlerweile eine eigene Beratungsfirma gegründet. Sonja Nientiet lebt nach wie vor als Geisel in Somalia.
Bis heute ist das Rote Kreuz in den Fall involviert. Nach dessen erfolglosen Aktivitäten in den ersten Jahren schalteten sich zwar die Deutschen mehr ein und arbeiteten fortan eigenständiger an dem Fall. Bis auf die abgeblasene Befreiungsaktion ist jedoch kein Ergebnis bekannt.
„Nach sieben Jahren halte ich das bisherige Vorgehen für falsch und nachweisbar unwirksam“, schrieb Olga Platzer, die Freundin von Sonja Nientiet, neulich ans Rote Kreuz nach Genf. „Sonja stirbt unter dieser Stillschweige-Taktik. Wir sind es ihr schuldig zu agieren.“