Ärger um Zensus: Millionenverluste durch Zensus – Kommunen ziehen vor Gericht

Weniger Einwohner, weniger Geld: Hanau, Fulda, Gießen und Rotenburg klagen gegen das Statistische Landesamt. Kassel wird vermutlich folgen.
Im Streit um die Ergebnisse des Zensus 2022 ziehen mehrere hessische Städte gegen das Statistische Landesamt vor Gericht. So haben beispielsweise bereits Hanau, Fulda, Rotenburg und Gießen entsprechende Klagen auf den Weg gebracht. In Kassel entscheiden die Stadtverordneten in einer Sondersitzung an diesem Montag über eine mögliche Klage.
Hintergrund des Konflikts ist, dass das Landesamt aufgrund der beim bundesweiten Zensus (Volkszählung) 2022 in Hessen ermittelten Daten die amtlichen Einwohnerzahlen vieler Städte niedriger festgelegt hat, als das die Städte aufgrund ihrer eigenen Unterlagen ermittelt haben. Insgesamt 41 hessische Kommunen hatten dagegen Widerspruch eingelegt. Die Städte bezweifeln, dass bei der Berechnung des jüngsten Zensus methodisch alles korrekt abgelaufen ist, und werfen dem Landesamt Intransparenz vor.
Die Behörde wies alle Vorwürfe zurück und bleibt bei seiner Haltung. Nun müssen die Verwaltungsgerichte entscheiden.
Einwohnerzahl wesentlich beim Finanzausgleich
Von der Einwohnerzahl hänge eine Vielzahl von Zuweisungen und Zuschüssen ab, erklärt Désirée Christofzik, Professorin für Finanzwissenschaft an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Eine wesentliche Rolle spiele sie etwa im Kommunalen Finanzausgleich. „Dort geht es um die Schlüsselzuweisungen, also wie viel einzelne Gemeinden aus Mitteln des Landes bekommen.“
Wenn eine Kommune unter einen bestimmten Schwellenwert falle, zähle ein Einwohner zudem weniger, erläuterte Christofzik. Das sei eine Folge der sogenannten Einwohnerveredelung im Kommunalen Finanzausgleich – einem Mechanismus, der Gemeinden mit mehr Einwohnern eine höhere Schlüsselzuweisung gewährt, weil angenommen wird, dass sie je Einwohner einen höheren Finanzbedarf haben. Wie viel weniger eine Kommune bekomme, hänge auch davon ab, wie stark der Rückgang der Einwohnerzahl bei den anderen Gemeinden sei.
„Der Gesamtkuchen bleibt gleich“
„Der Gesamtkuchen, also wie viel das Land insgesamt an die Gemeinden gibt, bleibt gleich. Aber die Verteilung dieses Kuchens hängt eben von der Einwohnerzahl ab. Und dann gewinnen einzelne Kommunen durch die Bevölkerungskorrektur und andere verlieren“, erläutert Christofzik. Städte wie Hanau, bei denen es laut Zensus einen recht starken Rückgang gibt, bekämen dann weniger von diesem Kuchen ab. Den betroffenen Kommunen drohe ein Einbruch im kommenden Jahr, sagt die Finanzwissenschaftlerin.
Rund 7.500 weniger Einwohner in Kassel
Laut der Zensus-Erhebung sollen in Kassel im Vergleich zur bisherigen amtlichen Einwohnerzahl des Landesamtes rund 7.500 Menschen weniger wohnen. Durch den Verlust der Einwohner in der Statistik würde Kassel pro Jahr rund zwölf Millionen Euro verlieren, erklärt die Stadt.
Zehn Millionen Euro weniger für Hanau
In Hanau liegt die Differenz zwischen Zensus und dem städtischen Melderegister sogar bei über 9.000 Einwohnern. Ein Verlust von knapp zehn Millionen Euro jährlich wäre die direkte Folge, wenn der amtliche Bescheid des Landesamtes Bestand hat. Weiterer Nebeneffekt: Mit der amtlich ermittelten Zahl von nur noch 93.632 Einwohnern ist Hanau seinen Status als Großstadt los.
Auch in Gießen und Fulda weniger Einwohner ermittelt
In Gießen geht es um gut 6.000 Einwohner, die die Stadt laut Zensus weniger haben soll als zuvor angenommen. Damit würde die Stadt pro Jahr 8,6 Millionen Euro verlieren. In Fulda kommt der Zensus auf 64.705 Einwohner, die Stadt selbst zählte an diesem Stichtag dagegen 69.323 Menschen. Die Barockstadt geht von einer finanziellen Verschlechterung von mindestens 6,5 Millionen Euro aus.
Auch kleinere Städte wie Rotenburg wehren sich
Nicht nur Groß- und Mittelstädte wehren sich gegen den Zensus: Auch Rotenburg an der Fulda will den Streit mit der Statistikbehörde vor Gericht ausfechten. Der Zensus kommt auf rund 1.130 Einwohnerinnen und Einwohner weniger, als die Stadt selbst am Stichtag in ihren Unterlagen hatte. Die finanzielle Mehrbelastung als Folge des Zensus-Ergebnisses beziffert Rotenburg auf rund 800.000 Euro jährlich.
Städtetag ohne Erfolg bei Landesamt
Die Auseinandersetzung zwischen den Städten und dem Landesamt wird auch vom Hessischen Städtetag aufmerksam verfolgt. Der kommunale Spitzenverband habe mehrfach Gespräche mit dem Landesamt geführt und Schreiben geschickt, teilt Referatsleiter Michael Hofmeister mit. Darin sei die Behörde auf – aus Sicht der Städte – bestehende mögliche Fehlerquellen hingewiesen und um erneute Überprüfung gebeten worden – ohne Erfolg. „Nun liegt es bei den Gerichten“, sagt er.
Zu den Erfolgsaussichten der Klagen will der Städtetag keine Prognose abgeben. Auf der einen Seite gebe es mit Blick auf die bundesgesetzlich geregelte Methodik eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Zensus 2011, die diese als verfassungskonform befand. Jedoch könnten gegebenenfalls „konkrete Fehler bei der Ermittlung der Einwohnerzahlen einen möglichen Anknüpfungspunkt bieten“.
Was sagt das Statistische Landesamt zu den Vorwürfen?
Das Hessische Statistische Landesamt (HSL) hat wiederholt erklärt, dass das im Zensus angewandte statistische Verfahren wissenschaftlich fundiert und vom Bundesverfassungsgericht bestätigt sei. Die Abweichungen der Zahlen vom Mikrozensus 2011 und der Folgezählung 2022 ergaben sich laut den Statistikern etwa durch den Einfluss von Fluchtbewegungen auf die melderechtliche Erfassung. Viele ausländische Einwohner meldeten sich bei der Rückkehr in die Heimat nicht ab. Auch könne es während der Corona-Pandemie Meldedefizite gegeben haben.
Die Statistikbehörde hatte die Widerspruchsbescheide am 23. Juni an alle 41 hessischen Kommunen verschickt, die Widerspruch gegen ihren Bescheid eingelegt hatten. Nach Posteingang haben die Städte einen Monat Zeit, dagegen zu klagen. Diese Frist läuft demnächst ab.
Bei sieben Widersprüchen wurde laut HSL die entsprechende Frist nicht eingehalten. Die übrigen 34 Widersprüche seien „intensiv inhaltlich geprüft“ worden, teilte die Behörde mit.
HSL: Keinerlei Hinweise auf Fehler
Dabei sei das HSL jeder Begründung einzeln nachgegangen, habe die individuellen Hinweise sowie die Situation der Kommunen berücksichtigt und die dargelegten Argumente umfassend behandelt. „Im Ergebnis haben sich keinerlei Hinweise auf Fehler bei der Ermittlung der Einwohnerzahlen ergeben, weder in der Erhebung noch in den Ergebnissen des Zensus 2022“, erklärte die Behörde. „Die festgestellten Einwohnerzahlen wurden fehlerfrei in einem rechtlich legitimierten Verfahren ermittelt.“