Rezension: Warum jeder die unscheinbare Kino-App „Letterboxd“ braucht

Die Kino-App „Letterboxd“ kommt wenig glanzvoll daher, dabei kann sie so viel. Nun hat die Gen Z sie als ihr popkulturelles Wohnzimmer entdeckt.
Auf den ersten Blick wirkt sie schmucklos. Eine App in Dunkelgrau, keine Autoplay-Videos, schlanke Schrift. Nichts blinkt, nichts springt ins Gesicht. Nur Filmplakate, Sternebewertungen und ein Suchfeld. Ausgerechnet diese App wird gerade sehr gehypt: „Letterboxd“.
Was früher ein nerdiger Ort für Cinephile war, ist heute das popkulturelle Wohnzimmer der Gen Z. Ein digitaler Ort für Kritiklustige, um Filme zu bewerten und zu kommentieren, mit Fremden und Freunden.
Die App gibt es seit 2011, aber im Internet zählt nicht das Geburtsjahr, sondern, wer dich liebt. Und wann. Die Popikone Charli xcx hat „Letterboxd“ jetzt so richtig groß gemacht. Laut ihrem Account darf sie sich rühmen, bereits über 1200 Filme geschaut zu haben. Potzblitz!
Ihre Fans verfolgen dort, was sie liebt, hasst oder ironisch wegwischt. So schreibt die Sängerin etwa, dass sie „To Die For“ angeschaut habe, nachdem sie 48 Stunden in Las Vegas feiern gewesen sei. Und dass sie bei „Bridget Jones“ zweimal weinen musste, „ich habe SO meine Tage“.
Das schafft Scheinnähe. Plötzlich verschwimmen Grenzen zwischen Star und Fans, Humor und Haltung, Persönlichkeit und Performance.
„Letterboxd“ ist mehr als Filmkritik
Denn „Letterboxd“ ist nicht nur Filmkritik, sondern auch Sozialspiel. Wer die App öffnet, wird als Erstes nach seinen vier Lieblingsfilmen gefragt, die „Top Four“, wie es in der Community heißt. Eine Art kulturell-soziales Tarot. Zeig mir deine Filme und ich sage dir, ob ich mit dir befreundet sein möchte. Ob du „Der Pate“ für zu basic hältst oder „Oppenheimer“ für überschätzt – spielt alles eine Rolle. Die App passt in diese Zeit, sie ist persönlich und niedrigschwellig. Und hinter der nüchternen Optik tobt ein lässiger, aber intensiver Kampf um Geschmack. Nicht das protzige Auto, sondern Filmgeschmack wird zur Währung der Selbstdarstellung.
Auch, weil man nicht nur listet, was man schaut, sondern auch, wer man ist, wenn man schaut. „Letterboxd“ füllt ein Vakuum, das seit der Deformation von Plattformen wie Twitter weit klafft, als Ort für spontane Gedanken, Fandom und echte Diskussionen. Ob ausschweifende Analyse oder pointierte Einzeiler wie „a Netflix Original. Yeah, we can tell“ – Posts werden gelikt und diskutiert. Die App ist mehr als Bewertungsskala. Sie ist Charaktertest.
Der eigene Geschmack kuratiert. Das digitale Ich entsteht nicht über Selfies, sondern über halbironische Listen wie „Corona-Ratschläge in Filmen“ oder „Keanu Reeves spielt einen Charakter namens John“. Dazu kann man Listen von Freunden durchstöbern. Wer sich verliert im endlosen Angebot der Streaminganbieter, findet hier Inspiration.
Die auffällige Reduktion, die zelebrierte Langsamkeit weist „Letterboxd“ als Ort aus, an dem Lesen und Schreiben wieder zählt. Vielleicht ein Ausdruck von Medienmüdigkeit, sicher ein Gegentrend zum nie endenden Videostrom auf Tiktok und Instagram. In einer Zeit, in der Kultur immer eiliger konsumiert wird, wird hier das Festhalten zur Pose.