Wissen: Bestsellerautorin Giulia Enders: „Wir können unseren Körper zum Komplizen machen“

Elf Jahre nach ihrem Bestseller „Darm mit Charme“ legt Giulia Enders mit einen zweiten Buch nach. Darin erklärt sie, was die Haut über Trauer lehrt und das Immunsystem über Frieden
Frau Enders, mit Ihrem ersten Buch „Darm mit Charme“ haben Sie acht Millionen Menschen auf dem Klo geholfen. Nun erscheint Ihr zweites Buch „Organisch“, es geht um gleich fünf Organe: die Lunge, die Haut, die Muskeln, das Immunsystem und das Gehirn. Wem wollen Sie damit weiterhelfen?
Allen, die ihren Körper besser verstehen und besser fühlen wollen. Während meiner Arbeit im Krankenhaus habe ich gemerkt, dass es Menschen sehr belastet, wenn ihr Körper nicht wie eine Maschine funktioniert. Dem will ich etwas entgegensetzen. Unser Körper ist ein komplexes, organisches System, und es wäre schön, wenn wir ihnals verständnisvollen Komplizen sähen. Dann könnten wir viel von ihm lernen.
Wie fühlt Sich Ihr Komplize heute?
Heute morgen war mein Körper aufgeregt, weil mein Tag so voll ist. Mein Herz hat schneller geschlagen, meine Schultern waren angespannt. Jetzt habe ich noch immer etwas Dampf drauf, aber er ist schon besser.
Was hilft dagegen?
Ein banaler Gedanke: Ich werde nur das machen, was mein Körper schaffen kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er weiß ziemlich genau, dass es manchmal klüger ist, nicht einfach nur nach vorne zu preschen. Dafür müssen wir uns nur unsere Muskulatur anschauen.
Wie regeln es die Muskeln?
Sie wissen zum Beispiel, dass Entspannung genauso zum Handeln dazugehört, wie das Vorwärtsstrampeln. Und auch, dass die Kraft bei Bewegungen aus mehreren Richtungen kommt. Das nutzt das Protein Titin. Es speichert Energie, wenn wir etwa einen angespannten Muskel dehnen, und es kann sie später wieder abgeben. Durch Titin sind Muskeln keine analogen Leistungserbringer, sondern eher Steinschleudern.
Kann der Steinschleuder-Effekt auch jenseits des Sports helfen, etwa im Arbeitsalltag?
Ein kurzer Mittagsschlaf oder eine erholsame Pause können viel bessere Ergebnisse bringen, als eine Stunde länger zu arbeiten. In einem Team für gute Laune zu sorgen, kann genauso helfen, wie eine Aufgabe effektiv zu erledigen. Manchmal sind wir langsam besser als schnell. An meinem neuen Buch habe ich vier Jahre geschrieben. Ich musste über viele Dinge erst einmal schlafen, um sie besser zu verstehen. Erst als ich mir das zugestanden habe, ging es voran. Altmodisch gegen den Körper und seine Grenzen anzukämpfen, ist meist nicht sinnvoll.
Sie beschreiben in Ihrem Buch auch, wie Ihr Körper Ihnen das Trauern beigebracht hat. Was meinen Sie damit?
Als meine Oma starb, war ich wie betäubt. Ich konnte nicht trauern und wusste nicht, weshalb. Bis ich zufällig einen Text über Wundheilung las und anfing zu weinen. Ich hatte endlich Worte vor meinen Augen, die mir halfen, zu verstehen, was vor sich ging. Verwundet zu sein bedeutet, dass plötzlich Gewebe fehlt, deshalb muss schnell eine Kruste entstehen. Sie hält Dreck und Druck von der Wunde fern. Die Wunde heilt unter der Kruste, bis diese abfällt und zartes rosa Gewebe zum Vorschein komm. Das Gewebe ist repariert, aber es ist nicht mehr so wie vorher. So war das bei mir auch – unter meiner tauben Kruste passierte eine Menge und ich werde für immer diese Narbe tragen. Kein Psychologie-Ratgeber konnte mir das Trauern so schön erklären wie die Haut.
Sie sprechen sehr liebevoll über Ihre Organe.
Meistens verwenden wir technische und sogar militärische Metaphern. Das Immunsystem “bekämpft” feindliche Erreger, das Gehirn “steuert” unser Denken, Fühlen und Handeln. Wir betrachten es oft als Herrscher-Organ, das Genie im Körper. Diese Sichtweise ist absurd. Das Gehirn ist dazu da, die Realität aufzunehmen und zusammenzufassen. Unter dem Mikroskop sehen wir, dass es dafür aus Billionen Zellen besteht, die eng miteinander verwoben sind. Das Gehirn stellt Verbindungen her.
Woher kommt Ihr sanfter Blick auf unsere Innereien?
Den hatte ich schon im Studium. Wie oft habe ich schon in einen Dünndarm reingeschaut und dachte dabei: Die Zotteln sehen aus wie Seeanemonen, das ist Schönheit.
Geht es Ihnen mit allen Organen so?
Nicht auf Anhieb. Mit dem Darm war ich schon immer voll auf einer Wellenlänge. Bei der Lunge hatte ich das Problem, dass ich sie etwas weich und passiv fand, ich empfand zuerst keine Begeisterung. Eine Paartherapeutin empfahl mir, die Lunge mit Menschen zu vergleichen, die mir nahestehen. Das hat geholfen.
Sie sind zur Paartherapie gegangen, um ihre Beziehung zur Lunge zu verbessern?
Ja, ich habe das mit allen Organen gemacht und mir dafür eine Therapiestunde geleistet. Solche Experimente hätte ich mir früher nie erlaubt, aber nach meinem erste Buch ging das.
Welcher Mensch in Ihrem Leben hat Sie mit der Lunge versöhnt?
Meine Uroma. Sie war eine weiche, gutmütige Person. Gleichzeitig interessierte sie sich für Astronomie, Yoga und naturnahe Ernährung. Und das erinnert mich an die Lunge: Ein weiches, passives Organ, das uns aber das wichtigste Bedürfnis erfüllt – Luft holen, ganz ohne hart drauf zu sein.
Was haben Sie noch gelernt in der Paartherapie mit den Organen?
Mit einem Satz der Therapeutin konnte ich viel anfangen: Es geht in langen Beziehungen mehr um Verständnis und Wertschätzung als um Liebe. Den Darm konnte ich einfach lieben. Die anderen Organen musste ich erst besser verstehen, um sie für das zu schätzen, was sie gut hinkriegen.
Haben Sie Sorge, sich manchmal zu viel mit Ihrem Körper zu beschäftigen?
Ich glaube, richtiges Wissen macht uns eher entspannter. Noch bevor ich “Darm mit Charme” schrieb, probierte ich wegen einer Hautkrankheit alle möglichen Diäten aus. Erst als ich meinen Darm besser verstand, wurde mir klar: Man darf auch mal echten Junk essen, wenn man die überwiegende Zeit nett zum Darm ist. Der Körper hält viel aus.
Das klingt anders als unser Zeitgeist: Wir blicken selten pragmatisch auf unseren Körper und wollen ihn dauernd optimieren und mit Fitnessbändern und Trackingapps überwachen.
Daten über unseren Körper sind nicht schlecht. Es kommt drauf an, wie wir sie verwenden. Das ist wie in einer Freundschaft: Wenn ich jemandem immer nur zuhöre, um ihn zu verbessern, ist das kein schönes Gespräch. Wenn ich aber zuhöre, um ihn wirklich zu verstehen, dann ist das gut.
Welche Daten sammeln Sie über deinen Körper?
Für die Recherche habe ich mir eine Matte mit 200 Sensoren gekauft, die meinen Schlaf überwacht. Eine Zeit lang hatte ich dann Probleme, einzuschlafen, weil ich immer dachte: jetzt geht das Schlafexperiment los! Aber mit der Zeit konnte ich mit den Daten etwas anfangen.
Und zwar?
Schlaf ist eine Machtübergabe. Unsere bewussten Hirnbereiche geben den Staffelstab ab und andere Bereiche übernehmen. Tiefschlaf findet oft in der ersten Nachhälfte statt, da regenerieren wir unsere Zellen. Wenn ich davon nicht viel bekomme, fühle ich mich morgens gerädert. Die Daten haben mir zum Beispiel auch gezeigt, dass ich nicht gut in den Tiefschlaf finde, wenn ich am Abend noch etwas trinke oder etwas Aufregendes unternehme.
Den Tipp kenne ich! Sind es am Ende die einfachen Dinge, die helfen?
Viele Tipps in meinem Buch sind nicht kompliziert oder abgefahren. Oft geht es gar nicht so sehr um diese Tipps, sondern darum, sie endlich mal besser zu verstehen. Warum macht es Sinn, nach etwas Ungesundem etwas Gesundes zu essen? Wieso sollte ich beim Yoga lange ausatmen? Weshalb sollte ich im Fitnessstudio so zu tun als ob ich irgendwohin rennen muss, auch wenn das gar nicht der Fall ist?
Fällt es dann leichter, die Tipps umzusetzen?
Mir zumindest schon. Ich glaube, je mehr wir über unseren Körper wissen, desto klügerkönnen wir mit ihm zusammenarbeiten. Und ihn wertschätzen! Auch wenn es unmöglich ist, den Wert des Körpers wirklich zu berechnen, zeigen Gedankenspiele dazu: Er ist verdammt viel wert – mindestens so viel wie alle Immobilien aus London oder New York City zusammen.
Wie kommt man zu solchen Annahmen?
Ich habe gelesen, dass es drei Millionen Euro kosten würde, ein Auge nachzubauen. Bis zu zehn Millionen Euro kosten Prothesen, die Knochen und Gelenke ersetzen können. Für ein Nervensystem, künstliche Hormone und Gefäße müsste man 500 Millionen Euro zahlen. All das aus echten Zellen nachgebaut, würde die Kosten ins Astronomische treiben!
Ein Auge könnten Sie sich vielleicht leisten, Sie haben mit Mitte 20 einen Weltbestseller geschrieben. Wie blicken Sie heute auf den Erfolg?
Ich bin dankbar für die Erfahrung und die finanzielle Sicherheit. Was den Erfolg betrifft, war das mitunter aber auch ernüchternd. Ich saß einmal nach der Erscheinung von “Darm mit Charme” bei einem Abendessen mit lauter berühmten Leuten und dachte, das müsse sich wie das Beste auf der Welt anfühlen. Es war auch nett, aber mehr nicht. Dieses Erlebnis war wachrüttelnd. Wie gut, dass ich nicht 30 Jahre lang auf so etwas hingearbeitet habe. Dann hätte ich mir vielleicht nicht mehr eingestehen können, dass beruflicher Erfolg nicht alles ist.
Haben Sie schon neue Ideen, in die Sie Lebenszeit investieren möchten?
Bis zum nächsten Sommer bin ich mit dem Buch auf Lesetour. Vielleicht arbeite ich anschließend wieder als Ärztin. Oder ich gehe in die Forschung. Um da Karriere zu machen, bin ich jetzt zu alt, aber ich mag die Arbeit im Labor. Ich will etwas tun, das ich sinnvoll finde, das mich interessiert.
Wenden Sie sich dafür wieder dem Darm zu?
Ich habe mich nie abgewandt: In meinem neuen Buch stelle ich nur seine Familie vor. Der Darm bleibt meine große Liebe!