TV-Kritik: Wie sich Friedrich Merz zum Retter der Nato erklärt

Zum Ende der Sommerpause versucht Bundeskanzler Friedrich Merz, alle innenpolitischen Konflikte einfach zu negieren. Außenpolitisch präsentiert sich als nüchterner Weltpolitiker.
Es dauert sieben Minuten, da bekommt Friedrich Merz dann doch schlechte Laune. Gerade hat die ZDF-Journalistin Diana Zimmermann den Bundeskanzler gefragt, warum er es eigentlich nicht schaffe, seine Unionsfraktion richtig mitzunehmen.
„Ich weiß nicht, welche Welt sie da in Berlin wahrnehmen, Frau Zimmermann!“, echauffiert sich Merz. „Es gibt nicht einen Fall, wo die Bundestagsfraktion in einer Abstimmung den Vorschlägen der Bundesregierung nicht gefolgt ist! Nicht einen!“
Da hat Friedrich Merz recht. Seine gescheiterte Wahl zum Kanzler im ersten Wahlgang lässt sich auch mit Nein-Stimmen aus der SPD erklären. Die Wahl der Verfassungsrichter wurde abgesagt, bevor es überhaupt zur Abstimmung kommen konnte. Und der Protest gegen seine einsame Entscheidung, keine Waffen mehr an Israel zu liefern, sofern diese in Gaza eingesetzt werden könnten, hat nichts mit dem Parlament zu tun – und fand sowieso in der Sommerpause statt.
Wobei, welche Pause? Der erste Kanzlersommer hatte sich Friedrich Merz ziemlich wild gestaltet. Ferien gab es fast keine. Die Sonne am Zweitwohnsitz Tegernsee reichte, um das Gesicht angemessen zu bräunen. Aber Ruhe fand er dort nicht.
Ständig musste er wegen Donald Trump und der Ukraine telefonieren und konferieren, um dann zwischendurch sogar nach Washington zu reisen. Und dann war da noch der Teilstopp der Waffenlieferungen an Israel. In der CDU, aber vor allem in der CSU interpretierte man die Entscheidung als Abschied von 75 Jahren Unionspolitik, was den Kanzler zu einem spontanen Die-Staatsräson-gilt-Dekret per Fernsehgespräch nötigte.
Nun also der offizielle Post-Ferien-TV-Termin, eine Woche vor Beginn des Parlamentsbetriebs. Merz befindet sich längst wieder im Arbeitsmodus. Diese Woche war er mit Emmanuel Macron und Donald Tusk in der Republik Moldau und dann noch einmal mit Macron zur französisch-deutschen Kabinettssitzung in Toulon.
Das Setting des Fernsehinterviews ist immerhin freundlich. Während die ARD die Parteivorsitzenden stets auf der Terrasse ihres Hauptstadtstudios vernimmt – was im Falle von AfD-Chefin Alice Weidel zu demonstrativen Störungen einlud – reist das ZDF zum Spitzenpersonal in die jeweilige Heimat.
Friedrich Merz in der Heimat
In Fall des CDU-Chefs und Kanzlers ist dies das schöne Hochsauerland, genauer, der Hafen von Sundern am Sorpesee. Die fünftgrößte Talsperre Nordrhein-Westfalens liegt keine halbe Autostunde entfernt von Arnsberg, wo der Merz wohnt.
Ein Heimspiel wird der Auftritt trotzdem nicht für den Kanzler. Dafür ist die außen- wie innenpolitische Lage zu prekär. Die Koalitionspartner Union und SPD streiten sich fast schon wie zu Ampel-Zeiten, die Umfragelage ist entsprechend schlecht.
Was die Innenpolitik betrifft, bemüht sich der Kanzler im Interview um Balance. Auf der einen Seite schließt er Steuererhöhungen, von denen sein Vizekanzler und SPD-Chef Lars Klingbeil kürzlich sprach, ausdrücklich aus. Denn davon, sagt er, stehe nichts im Koalitionsvertrag. Und: „Der Koalitionsvertrag gilt.“
„Wir suchen nicht das, was uns trennt“
Auf der anderen Seite versucht Merz aber auch, die von seiner CDU-Wirtschaftsministerin Katherine Reiche über den Sommer forcierte Debatte über eine Rente mit 70 zu beenden. Denn auch davon, sagt der Kanzler, finde sich ja nichts im Koalitionsvertrag. Er setze auf das Prinzip Freiwilligkeit, etwa bei der sogenannten Aktivrente. Die Reform, die Pensionären einen steuerfreien Zuverdienst von bis zu 2000 Euro ermöglichen soll, solle schon ab dem 1. Januar 2026 in Kraft treten.
„Wir suchen nicht das, was uns trennt“, sagt Merz. „Wir suchen das, was uns gemeinsam verantwortungsvoll regieren lässt.“
Doch was genau ist das Gemeinsame beim Bürgergeld, der Pflege und all den anderen versprochenen Reformen? Dazu wird der Kanzler leider nicht gefragt. Lieber redet Zimmermann zum sichtlichen Ärger des Kanzlers über die abgesagte Richterwahl und darüber, wie es nun weitergeht.
Merz versucht, die missliche Angelegenheit so weit wie möglich von sich wegzuschieben. „Das ist eine Aufgabe, die zwischen den Fraktionen zunächst einmal in der Regierung geklärt werden muss“, sagt er. „Das machen die beiden Fraktionsvorsitzenden, die sich am Wochenende jetzt auch dazu noch einmal konkret verabredet haben.“
Aber was sei mit der nötigen Zweidrittel-Mehrheit? Müsse da die Union nicht neben den Grünen auch mit den Linken reden, um nicht auf Stimmen der AfD angewiesen zu sein?
Jetzt versucht Merz, das Problem einfach rhetorisch zu negieren. „Im Ältestenrat sitzt Die Linke genauso wie die AfD“. Dort werde über die Tagesordnung und die Abläufe gesprochen, das seien „normale Vorgänge“ im Parlament. Aber: „Bevor wir irgendwelche Gespräche führen im Hinblick auf mögliche Abstimmungen, müssen wir doch zunächst einmal in den eigenen Reihen wissen, was wir wirklich wollen.“
Die SPD soll mit Grünen und Linken reden
Übersetzt heißt das wohl: Nachdem sich die Union und SPD geeinigt haben, sollen die Sozialdemokraten bei Grünen und Linken die nötigen Stimmen für ihre neue Kandidatin besorgen. Der Rest ergibt sich dann schon. Und der Abgrenzungsbeschluss, der in den Ländern längst überholt ist, darf noch ein bisschen weiter gelten.
Überhaupt versucht Merz, sich die Realität so zurechtzubiegen, wie es ihm gerade am besten passt. Als er darauf angesprochen wird, dass er mit der Aufnahme der Rekordschulden das Gegenteil von dem, was er im Wahlkampf versprach, gemacht habe, holt er die ganz große historische Lanze hervor.
„Wir haben im Grunde genommen die Nato bewahren können mit unserer Entscheidung“, sagt er. Er sei ja auf dem Gipfel des Verteidigungsbündnisses in Den Haag gewesen. „Wenn wir das Grundgesetz nicht geändert hätten, (…) dann wäre diese Nato wahrscheinlich an diesem Tag auseinandergefallen.“
Friedrich Merz: der Retter der Nato. Dass er gleichzeitig einen Sonderschuldentopf in Höhe einer halben Billion Euro in die Verfassung schreiben ließ, erwähnt er genauso wenig wie die ihm gegenübersitzende Journalistin.
Der Frieden in Europa hat eben seinen Preis, auch wenn es bis dahin laut Merz „ein mühsamer Prozess“ ist. Man dürfe „nicht erwarten, dass jetzt plötzlich über Nacht alles wieder gut wird“, sagt er.
Es folgt die erwartbare Frage zu den Bodentruppen in der Ukraine, deren Stationierung Merz nicht ausschließen wollte, was wiederum sein CDU-Vize Michael Kretschmer scharf kritisierte. Wieder biegt sich der Kanzler die Wirklichkeit zurecht: Der sächsische Ministerpräsident habe „völlig recht für den gegenwärtigen Fall“, sagt Merz. Denn: „Niemand redet über Bodentruppen in der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt.“
„Und dann sind überübermorgen wir dran“
Aha. Aber warum täten das dann die Franzosen und Briten? Und warum habe er dann von einem möglichen Bundestagsmandat gesprochen? Nun, antwortet Merz, das gelte ja „für jeden Fall eines Auslandseinsatzes“, selbst wenn „wir nur die Lufträume über der Ukraine schützen würden“. Das sei doch selbstverständlich.
Ist es das tatsächlich? Das Problem ist, dass Merz mit seiner Art der politischen Kommunikation zuweilen mehr Fragen als Antworten produziert – und damit Debatten auslöst, die er danach wieder mühsam einfangen muss.
Doch an einer Stelle ist der Bundeskanzler sehr klar und auch sehr präzise. Der Krieg in der Ukraine könne noch lange dauern, sagt er. Zwar versuche er, den Konflikt gemeinsam mit den USA und Europa „so schnell wie möglich“ zu beenden – nur eben „ganz sicher nicht um den Preis der Kapitulation“.
Denn dann, sagt er, treffe es übermorgen das nächste Land. „Und dann sind überübermorgen wir dran.“